Professor für Politologie und Fußball-Poet

Wo waren Sie, als das Sparwasser-Tor fiel?

Das Ergebnis des 22. Juni 1974 habe ich erst anderntags mitbekommen: "So nicht, Herr Schön!" titelte die BamS am Kiosk gegenüber. Ich studierte damals in Münster und wohnte in dem kleinen münsterländischen Dorf Angelmodde. Wir waren zu acht in unserem alten Bauernhof, eine Polit-Kommune. Über unserer Haustür stand in großen schwarzen Lettern auf rotem Grund: "Wer keine Angst vor Vierteilung hat, wagt es, den Kaiser vom Pferd zu zerren." Eine Losung aus der Mao-Bibel. Meine Fußball-Leidenschaft köchelte auf Sparflamme, so sehr nahmen mich die ML-Schulungen und der Kampf gegen die Isolationsfolter mit. Dennoch schielte ich gelegentlich rüber nach Hiltrup, ins Waldhotel.

Dort hatte die holländische Nationalmannschaft Quartier bezogen. Die Spieler, so konnte man in den Westfälischen Nachrichten lesen, ließen es sich dort gut gehen. Man sah Torwart Jan Jongbloed beim Angeln am Baggersee hinterm Haus, und Flügelflitzer Jonny Rep, den ich besonders mochte, weil er mindestens ebenso viele Pickel im Gesicht hatte wie ich, wurde vom Fotografen beim Flirt mit einer Schuhverkäuferin erwischt. Als der Reporter den holländischen Bondscoach fragte, ob seine Spieler trotz des lockeren Lebenswandels alle fit seien, bekam er knappen Bescheid: "Den Jungens gucken die Knochen aus den Backen!"

Ein folgenreicher Satz. Für mich. Mit diesem Satz, den ich mir aus der Zeitung ausschnitt und in meinen Taschenkalender klebte, begann meine Beschäftigung mit dem Fußball als Textsorte. Seither sehe ich Spielern und Trainern, Fans und Reportern aufs Maul; sie liefern mir den Rohstoff für meine Fußball-Satiren.

Auch das Sparwasser-Spiel hatte seine sprachlichen Reize, schon die Ankündigung war ein Politikum: "Deutschland gegen die DDR". Das ist ein Ton, der noch heute nicht verklungen ist. Bis vor kurzem gab Springers Welt bei der Anzahl der Länderspiele, die Matthias Sammer für Deutschland bestritten hat, nur die Zahl der Begegnungen seit der "Wiedervereinigung" an - seine 23 Einsätze für die DDR wurden nicht erwähnt. Ebenfalls nicht lange her ist es, daß man vom Politiker Kinkel schrieb, er sei "der erste deutsche Außenminister, der Vietnam besucht"; dabei wurde übersehen, daß Otto Winzer schon lange vor Kinkel in Hanoi war. Und wie zum Beweis, daß noch heute die ehemalige DDR nicht zu Deutschland gehört, wird über die Ferienpläne der Bonner Parlamentarier berichtet, daß "einige Politiker Urlaub in Deutschland machen, während andere in die Lausitz fahren".

Dabei könnte doch alles gut sein. Denn die Revanche für den 22. Juni 1974 fand am 3. Oktober 1990 statt: Deutschland eins, DDR null.