Feierabend beim »Alltag«

Eine Zeitschrift verschwindet, die Sensationen des Gewöhnlichen bleiben

Bei manchen Zeitschriften fragt man sich, wie es sie überhaupt noch geben kann. Eine von dieser Sorte gibt es nun nicht mehr: Mit der "Sittenlockerung" betitelten Doppelnummer ist jetzt die letzte Ausgabe des Alltag erschienen - vorausgesetzt, es findet sich nicht Deus ex machina ein neuer Verleger, worauf aber nichts hindeutet. Ökonomisch muß der Alltag schon seit längerem ein Verlustgeschäft gewesen sein, aber auch ideell war sein Zenit schon leicht überschritten.

Entstanden ist er, wie so viele Projekte, Ende der Siebziger als Reflex auf die hypertheoretisierten, hyperdogmatisierten und hyperabstrakten Debatten des vorausgegangenen Jahrzehnts. Dagegen wollte man - "man" ist im wesentlichen der erste Herausgeber Walter Keller - eine bewußt unvoreingenommene und neugierige Phänomenologie der alltäglichen Dinge setzen, wieder in die Sphäre der Anschauung und der unmittelbaren Erfahrung zurücktauchen. Deskription ging, was damals eine Revolution gewesen sein muß, eindeutig vor Deduktion. Wenn schon nicht die großen Widersprüche, so ließ sich doch die scheinbare Paradoxie des Untertitels "Sensationen des Gewöhnlichen" damit schlüssig auflösen.

Und wie so oft bereitete der durchschlagende Erfolg des Programms den Untergang des Projektes vor. Die Konjunktur der Alltagskultur ist nach einem ersten großen Schub in den Achtzigern nie wieder abgeflaut. Selbst und gerade universitäre Forschungszweige, von den "Kulturwissenschaften" bis zur "Europäischen Ethnologie", haben sich der Examination des Profanen verschrieben, und es dürfte langsam einigermaßen schwierig werden, einen alltäglichen Gegenstand zu finden, dessen "Kulturgeschichte" noch nicht geschrieben worden wäre. Das Konzept des Alltag ist im Alltag aufgegangen, in dem Sinne, daß heute beinahe jede Tages- oder Wochenzeitung mit einem entsprechenden Ressort aufwartet, etwa unter dem Label "Modernes Leben". Der neue Chefredakteur Michael Rutschky begegnete der allfälligen Inflationierung von Alltagsthemen, die dem Alltag sein genuines Betätigungsfeld streitig zu machen drohte, indem er die Themen der einzelnen Hefte so weit faßte, daß im Prinzip jeder schreiben konnte, was und worüber er wollte.

Auf einer improvisierten Totenmesse, die in der vergangenen Woche zum Erscheinen der letzten Nummer im Berliner Literaturhaus abgehalten wurde, bezeichnete Jörg Lau von der Zeit, auch häufig Autor beim Alltag, das Blatt als "getarnte Literaturzeitschrift", in der man ohne vorgegebenes Genre "intellektuelle Lockerungsübungen" ausführen konnte. Überhaupt habe jene informelle Arbeitsweise und Struktur des Alltag seine Besonderheit und seinen Reiz ausgemacht.

Tatsache: Hier konnte man noch mal "Ich" sagen und damit auch "Ich" meinen. Eine Kehrseite dieser in der Person Rutschkys sich erschöpfenden Programmatik war mit Sicherheit, daß sich ein Klüngel herausbildete, der auch an jenem letzten Abend geschlossen zugegen war, um sich noch einmal kräftig auf die Schulter zu klopfen. Die "intellektuellen Lockerungsübungen" nahmen in jüngster Zeit deshalb nicht selten die Form dessen an, was taz-Redakteure immer schon mal sagen wollten, wozu sie aber nirgendwo anders Gelegenheit bekamen. Bei aller angenehmen Ferne zu den aufgeregten Debattenfeuilletons im Lande, konnte ein Heft schon mal leicht ins Ephemere abgleiten.

Die letzte Nummer ist dann doch noch einmal recht schön und charismatisch geworden: "Sittenlockerung" - warum eigentlich nicht, wenn danach sowieso Schluß ist?