34. Der Tausendfüßler

Fortgestzte Erzählungen

Die Terrasse ist eine überdachte Galerie, die sich etwa zwei Meter über dem Garten erhebt. Jemand hat Korbstühle hinausgetragen, wahrscheinlich das schwarze Hausmädchen, das Darkie genannt wird, aber vielleicht auch Martha selber. Sie erwartet Gäste. Die untergehende Sonne beleuchtet die kahle Wand, wo ein Fleck die Stelle des Tausendfüßlers kennzeichnet, der vor einigen Tagen zerquetscht wurde.

Martha hat Klebe gleich darauf aufmerksam gemacht, als er zum ersten Mal das weißgestrichene Holzhaus betrat. "Sie sind wirklich tückisch, die Biester, und einige sind ziemlich giftig. I really hate them."

Klebe hat zurückgeschaut in den Garten mit den ruhig rotierenden Sprinklern, aber sein Blick landete erst viel weiter auf dem gegenüberliegenden Hang, wo schon die Wüste beginnt und sich ein Windrad dreht. "Gibt es viel so Getier?" hat er gefragt. "Oh, ja. It's horrible!"

Nun sitzt man wieder auf der Veranda. Das Windrad quietscht, aber es ist noch heiß, und um die Ecke hört man den lallenden Indianerkoch in der Küche werkeln. Es ist der gleiche, der Klebes Koffer getragen hat und Tamani genannt wird. Klebe beschreibt umständlich einen großen Garten, als könnte Rosebud ihn vergessen haben. Der Garten gehört Rosebud. Er sieht Klebe fragend an. "Gleich neben dem kühlen Grund", sagt Klebe, "meine Stammkneipe übrigens. Der Platz wäre ideal. Du kennst doch das Meisental."

Er dreht den Baseballschläger zwischen den flachen Händen. Rosebud lächelt. Der kühle Grund war Treffpunkt des Fußballvereins "Bar Kochba", als er ein Knabe war, und im Meisental ist er mit Martha spazieren gegangen. Er nickt.

Später kommen die Gäste. Man trinkt eine Art Apfelsinensaft-Bowle mit Pfefferminzgeschmack. "Planter's Punch", sagt Martha. Die Damen verdünnen mit Sodawasser, die Herren mit Whiskey. Das Licht der Stehlampe fällt auf den Fleck, wo der Tausendfüßler zerquetscht wurde.

Nun kreist das Gespräch eine Weile um den sowjetischen Vorsprung in der Raumfahrt, streift kurz die chinesische Atombombe, von der auch das Fernsehen berichtet hat, und verharrt lange bei der Herzchirurgie. Ein Mann aus Houston hat ein Kunstherz bekommen und den Eingriff vier Tage lang überlebt. Klebe erzählt von einem deutschen Politiker, der kürzlich in Israel war. "Sie geben sich wirklich Mühe", sagt er. "Er ist schon pensioniert, wollte aber noch mal seinen Freund Ben Gurion besuchen."

Außer Klebe ist ein Ehepaar Creek zu Gast. "Who the hell is Adenauer?" sagt Frau Creek. Creek hieß früher Krieg und betreibt einen Haushaltswarenladen in Sahuarita. Er stammt ursprünglich aus dem Nachbarkaff von Hofacker, das sich schon 1933 Adolf-Hitler-Stadt nennen durfte. Seine Frau ist eine üppige Dolores mit einer exotischen Brille. Sie schmeichelt Rosebud, indem sie sich über die Amerikaner mokiert, die darüber jammern, daß es seit der Cuba-Blockade keine Havannas mehr gibt.

"I can't respect these Americans", sagt sie, "they don't know the importance of freedom."

"Was weiß der Fisch vom Wasser?" fragt Creek. "Seit Generationen hat meine Familie gelebt in einem Kaff in Germany, dessen Namen ich nicht nennen werde, und kaum war der Umbruch, haben sie es Adolf-Hitler-Stadt genannt und uns rausgeekelt."

Er betrachtet sein Glas. Creek und Rosebud kennen sich seit über 50 Jahren. Sie haben zusammen in Kassel das Kaiser-Friedrich-Gymnasium besucht.

"Wem sagst du das?" fragt Rosebud sanft. "Wir haben in Hofacker das Kaufhaus Rosenberger gehabt. Bei uns haben sie alle gekauft, und wenn sie nichts hatten, haben sie anschreiben lassen. Aber '33 sind wir mit dem Zug nach Kassel gefahren, ist ein Mädchen gekommen, hat vor mir ausgespuckt: Wag' es nicht noch einmal, mich anzuglotzen, du dreckiger Saujude! Und heute ist diese Frau die Schwiegermutter meines Neffen, und er lebt in dem Haus, das sie meinem Onkel David Nußbaum abgeluchst hat."

Er sagt es ohne Erregung und schaut hinaus in die Wüste, die jetzt heller wirkt. Er dreht den Kopf zurück, blickt Klebe an und sagt: "Du kannst ihnen sagen, daß ich nicht verkaufen werde. Sie können ihr Sportlerheim sonstwohin bauen."

"Aber bitte", sagt Klebe, "mein Geld ist es nicht, das du verschimmeln läßt."

"What are they talking about, these fucking Germans", sagt Frau Krieg giftig. "Lost years", sagt Martha.

Der Mond beleuchtet jetzt den Teil der Hauswand, wo sich der Fleck befindet. Das helle Segment ist eine spitzwinklige Fläche, die vom Schatten des Eckpfeilers der Veranda zerlegt wird. Das Licht ist so hell, daß es die Lampe überstrahlt, aber der größte Teil der Wand liegt nach wie vor im Schatten.

"Laßt uns reingehen", sagt Martha, "it's getting cold." Sie steht auf, zieht das Tuch vor dem Hals zusammen und stößt einen kleinen Schrei aus. Ihre ausgestreckte Hand weist auf die Wand, wo der Tausendfüßler sitzt. Er ist etwa fingerlang, und bei aufmerksamem Hinschauen erkennt man die wiegende Bewegung der Fühler.

Mr. Rosebud rollt eine Serviette zu einem Ballen und geht auf die Wand zu. Er bewegt sich trotz seines Alters und seiner Größe leicht und lautlos. Marthas graues Haar schimmert im Mondlicht. Sie hält die Hand vor den Mund und man hört sie schluchzen.

Plötzlich biegt das Tier seinen Körper und beginnt, nach unten zu eilen, indes die geballte Serviette noch schneller aufprallt. Marthas Hand hat sich im Schultertuch verkrampft, Mrs. Creek stöhnt, Fred nimmt die Serviette von der Wand und zertritt etwas auf dem Holzfußboden. Es knirscht leise. Mr. Creek klatscht in die Hände. Alle erheben sich und gehen hinein, während Darkie mit dem Aufräumen beginnt.

Am nächsten Mittag, während sie auf Rosebud warten, sagt Martha:

"Du mußt nicht so ernst nehmen, was dein Onkel gestern abend gesagt hat. Er wird schon verkaufen." "Ich bin ihm nicht böse", sagt Klebe. "Ida ist jüdischer als wir alle zusammen."

"Das sind die Kinder der Nazis", sagt Martha. "Ich kannte mal einen, der hatte sich sogar beschneiden lassen, weil sein Vater in der SA war." Klebe lächelt, und Martha schweigt verwirrt.

Nach dem Abendessen sitzt man wieder auf der Veranda. Die letzten Sonnenstrahlen heben jetzt zwei Flecke hervor, einen dunklen und einen hellen. "Wie ist deine Frau?" fragt Rosebud.

"Ida?" fragt Klebe. Unschlüssig dreht er den Baseballschläger zwischen den flachen Händen. "Sie will, daß wir nach Israel auswandern", sagt er schließlich. "Welche Frau ist schon zufrieden mit ihrem Leben?" fragt Rosebud.

Später kommt General Krug mit seiner Frau. Sie ist eine Halbchinesin und spricht gut Deutsch. Man trinkt Planter's Punch, und Klebe muß von seiner Zeit in Palästina erzählen. "Im Pardess hab' ich gearbeitet, während des arabischen Aufstandes '36, einmal ist unser Lastwagen auf eine Mine gefahren, in Jerusalem auf dem Bau war ich tätig, und während des Krieges lag ich zwei Jahre am Toten Meer und hab' aufgepaßt, daß keiner ins Wasser fällt."

Frau Krug lispelt etwas. "Wie interessant. Was Sie alles erlebt haben. Aber warum sind Sie nicht in Deutschland geblieben, wenn es in Palästina so gefährlich war?"

Dann müssen Rosebuds ran. Die schlimmen dreißiger Jahre. Zuerst in New York, dann Detroit, Chicago. "Wir wußten ja nicht, daß wir froh sein konnten, überlebt zu haben."

Am Anfang hat der alte Rosenberger sie unterstützt und dann haben sie Apfelkisten getragen und Wäsche repariert. "Wir hatten ja sonst nichts gelernt", sagt Martha. "Alles, was wir konnten, war arbeiten", sagt Rosebud. Von dem Erlös haben sie in den 50er Jahren die Farm gekauft. "Wer ging denn damals nach Arizona?" "Tucson war das letzte", sagt Rosebud. "Nicht wie heute, wo die Filmstars von LA am Wochenende mit dem Flugzeug rüberkommen."

Frau Krug lispelt. "Ja, in Amerika konnte man damals was werden. Nicht wie in China oder Palästina." Sie schaut Klebe vorwurfsvoll an.

Später erörtern Krug und Rosebud die Weltlage. Cassius Clay ist noch immer unschlagbar, und endlich ist auch ein US-Raumschiff auf dem Mond gelandet. Klebe macht auf die bevorstehende Fußballweltmeisterschaft aufmerksam, und Rosebud erinnert sich, wie sie im Meisental mit einem Lumpenball Fußball gespielt haben. Martha lächelt versonnen. Kurz bevor die Krugs gehen, wird noch ein Tausendfüßler erschlagen.

Am nächsten Morgen sind drei Flecken auf der Wand. Dann wirft der Indianer Klebes Koffer auf den Pickup und springt hinterher. Auf dem Flughafen in London fliegt Klebe der Hut vom Kopf. Beim Flug über den Ärmelkanal sieht er die Wellen an beide Ufer schlagen. Weißer Schaum die Küsten entlang. Am Flughafen Frankfurt holt Ida ihn ab. "Na, wie war's."

"Es geht. Er verkauft uns das Grundstück. Aber mein Hut ist weg."

"Dafür hast du jetzt einen schönen Spazierstock", sagt Ida und lacht. Er schultert den Baseballschläger. "Sie haben einen indianischen Koch und ein schwarzes Dienstmädchen", sagt Klebe. "Wie praktisch", sagt Ida, "schwarz, weiß, rot." Sie fahren über die Autobahn, und Deutschland kommt ihm vor wie ein Paradies. Sein Hexenschuß ist wie weggeblasen.

Nächste Woche: "Die Wanzenburg"