Humba humba tätärä

Reinhard Kopiez und Guido Brink studieren das Gesangsverhalten im Stadion

Wo singen die Deutschen? In einer 1970 veröffentlichten Umfrage wurden Vereine am häufigsten genannt, die Familie rangierte weiter hinten, knapp vor Kirche und Chor. Fußballstadien wurden von den Befragten hingegen gar nicht genannt. Das Stadion war vor 30 Jahren eher ein Ort der Urlaute: Klatschen und Pfeifen, Johlen und Buhen beherrschten den Schallraum. Gesungen wurde allenfalls am Ende der Partie, wenn die Anhänger des siegreichen Clubs ein Karnevalslied aus dem Jahr 1954 anstimmten: "So ein Tag, so wunderschön wie heute."

Heute hat sich das Bild grundlegend gewandelt und englischen Verhältnissen angenähert. Reinhard Kopiez, Professor an der Hochschule für Musik in Würzburg, und Guido Brink, der über Mozarts Konzerte promovierte und als Kirchenmusiker und Gitarrenlehrer arbeitet, haben in ihrem Buch "Fußball-Fangesänge" das Gesangsverhalten der Fans erforscht. Das Repertoire der Supporter beschränkt sich nicht nur auf die drei, vier Lieder, die man während Fußballübertragungen grundsätzlich immer hört, sondern ist weit größer, wie die Autoren herausgefunden habe: Hunderttausende singender Fußballfans verfügen über ein Repertoire von 30 bis 50 Liedern, das sie ständig pflegen und variieren. Während eines gewöhnlichen Fußballspiels der 1. Bundesliga kommt man in den 150 Stadionminuten (90 Minuten Spiel, je 30 Minuten Einsing- und Aussingphase) auf gut 100 gesangliche Aktivitäten pro Fans beider Mannschaften.

Fußballspiele der oberen Spielklassen sind immer auch Open-Air-Konzerte. Tausende Menschen finden im Kollektivgesang und rhythmischen Klatschen zu einer Fangemeinde zusammen, die Einfluß auf das Spielgeschehen nimmt. Lassen wir die vielfältigen Formen des rhythmischen Klatschens und andere Primärreaktionen wie Pfeifen und Schreien, die das Buch auch behandelt, beiseite und konzentrieren uns auf den Gesang im Fußballstadion. Vier Funktionen des Kollektivgesangs haben Kopiez und Brink ausgemacht: Anfeuerung der eigenen Mannschaft, Huldigung einzelner Spieler-Idole bzw. Treuegelöbnisse an den Verein, Schmähung und Verhöhnung des Gegners, Ventil für die starke emotionale Anspannung eines jeden Fans - am häufigsten, lautesten und inbrünstigsten wird nach Toren der eigenen Mannschaft gesungen, Singen hat eine entspannende Funktion. Fußball-Lieder sind spontane Lieder, daher sind wohl auch alle Versuche, den Fangesang mit "fremdverordneten" und in "Fußball-Liederbüchern" festgehaltenen Songs auszustatten, gescheitert. Nur in ganz wenigen Ausnahmefällen übernehmen die Fans ein komplettes Lied in Text und Melodie, so bei der Urhymne des Stadions, "You'll Never Walk Alone", zuerst 1963 von Gary and the Pacemakers vorgetragen.

Typologisch unterscheidet das Buch Gesänge mit Text von Gesängen ohne Text. Letztere bestehen aus wiederholten Silben, etwa "shalala, lala, lala, la" in der Melodie des Refrains von "Is This the Way to Amarillo?" Um auf bekannte Melodien gesungen zu werden, genügen oft schon einzelne Spielernamen. Eine besonders schöne Variante ist das Feiern des Stürmers Bruno Labbadia zu "Vamos a la Playa". Als der Nigerianer Sunday Oliseh noch beim 1. FC Köln spielte, ließen ihn die Fans zur Melodie des Karnevalsliedes "Humba humba tätärä!" hochleben: "Sunday, Sunday, Sunday, Oliseh - Oliseh - Oliseh".

In der Regel sind die Gesänge jedoch kurz und gereimt. Folgender Klassiker, ursprünglich von Doris Day 1955 zum ersten Mal gesungen, gilt schon als langes Lied: "Che sera, sera / what ever will be, will be, / the champions are we, are we / che sera, sera."

Wer z.B. diesen Text manipuliert bzw. neu erfunden hat, ist beim Fansong ebenso unbekannt wie beim Volkswitz. Fangesänge bedienen sich ungeniert bereits vorhandener Melodien und Lieder, man betätigt sich als "Tondieb", "Umtexter" und "Zersinger" - und steht damit in guter Volksliedtradition.

Das Hauptgewicht des Fangesangs liegt dabei auf dem Text, die Melodie ist sekundär, in der Regel werden auf die gleiche Melodie mehrere Texte gesungen. Das können wechselseitige Schmählieder zwischen rivalisierenden Fangruppen sein; das können aber auch wechselnde Kommentare zum Spielverlauf sein. Ein Beispiel für die erste Variante der Schmähung: Beim Treffen 1. FC Köln gegen Bayern München fordern die Kölner zur Melodie von "Yellow Submarine": "Zieht den Bayern die Lederhosen aus". Die Münchner antworten mit der gleichen Melodie: "Ihr seid nur ein Karnevalsverein, Karnevalsverein, Karnevalsverein". Beispiel für die zweite Variante: Als Bayerns Mittelfeldstürmer Jancker einen Ball verstolpert, während im nächsten Augenblick Kölns Spielmacher Munteanu ein eleganter Trick gelingt, intonieren die Kölner Fans erneut "Yellow Submarine": "Siehste, Jancker, so wird das gemacht, so wird das gemacht." Das gute Ende für sich haben schließlich die Münchner, die nun ihrerseits wieder die Beatles anstimmen: "Schade, Köllen, alles ist vorbei, alles ist vorbei, alles ist vorbei."

Die einfachsten Textgesänge bestehen jedoch oft nur aus einem Wort. So singt man nach enttäuschenden Spielszenen der eigenen Mannschaft auf die Melodie des Marsches "Stars and Stripes": "Scheißegal, scheißegal, scheißegal."

Die melodischen Vorbilder haben sich während der 25 Jahre deutschen Stadiongesangs stark gewandelt. Hat man sich früher mehr am Volksliedgut und an Traditionals orientiert, so sind es heute Schlager und Erkennungsmelodien von Fernsehserien (z.B. sehr beliebt ist die "Flipper"-Melodie: "Wir singen Bochum, Bochum, Zweite Liga, wie ist das schön, euch nie mehr zu sehn!"). Der 1993 von den Pet Shop Boys populär gemachte Song "Go west!" fand binnen kurzem in allen Stadien Verbreitung und erfuhr soviele Textvarianten wie es Vereine gibt. Den Anfang machten die Fans von Schalke 04: "Steht auf, wenn ihr Schalker seid!"

Welche Eigenschaften muß eine Melodie aufweisen, um Eingang ins Repertoire der singenden Fans zu finden? Die Wahl der Supporter fällt stets auf klare, einfach strukturierte Melodien oder auf Melodien, die sich auf einfache Prinzipien reduzieren lassen. Beides ist wichtig für die mündliche Überlieferung, durch die die Fansongs tradiert werden. Vorteilhaft ist es auch, wenn das Melodiestück für eine Endlosschleife, d.h. für beliebige Wiederholungen geeignet ist.

Denn Fansongs sind zwar spontane Lieder, und die Massen singen ohne einen Dirigenten - Kopiez und Brink nennen das "Fischerchöre ohne Fischer" - , aber einen Animateur gibt es in der Regel doch. Fast überall finden sich Anstimmer und Chant-Leader, die ihre Aufgabe rein stimmlich oder instrumental erfüllen. Dabei haben sich echte Stars der Szene profiliert, z.B. RWE-Lothar, Anstimmer von Rot-Weiß Essen, der vom Stadion im Chor ("Lothar, wir bitten dich!") aufgefordert wird, mit seinem gewaltigen Organ ein Lied anzustimmen. In Gelsenkirchen ist es "Schalke-Willi", ein Dachdeckermeister, der mit seiner Trompete die Gesänge startet und begleitet. Instrumentelle Begleitung des Fußballs und Sangesfreudigkeit stehen dabei in einem Wechselverhältnis - erwiesen ist, daß die Trompete zum Singen anregt, während die Trommel das Lied erstickt. Warum finden die Massenchöre gerade im Fußball-Stadion zusammen?

Die Autoren versuchen darauf eine Antwort zu geben, indem sie auf die Popularität der Sportart und die Größe der Versammlungsorte hinweisen. Mir scheint jedoch die Betrachtung der Spannungsverläufe beim Fußball viel wichtiger zu sein: Im Handball und beim Basketball gibt es einfach zu viele Höhepunkte (Tor- und Korberfolge), so daß sich Gesänge gar nicht erst aufbauen können. Im Fußball hingegen sind die Höhepunkte (Tore) äußerst rar.

Wer hat in der Bundesliga die sangesfreudigsten Fans mit dem größten Lied-Repertoire, also die beste akustische Visitenkarte? Es ist der FC Bayern München. Und das hat, so Kopiez und Brink, vor allem zwei Gründe. Prinzipiell gilt: "You only sing when you're winning", und der deutsche Rekordmeister hat mehr nationale und internationale Titel gewonnen als irgendein anderer Verein. Die Bayern-Fans konnten durch Kontakte zu ausländischen Supportern bei den vielen Europacup-Spiele ihres Vereins ihr Gesangs-Repertoire eben auch international beträchtlich erweitern.

In "Fußball-Fangesänge" werden jedoch nicht nur Untersuchungen über die singenden Fans, sowie eine große Anzahl von Liedtexten und -noten gesammelt, auf der dem Buch beigefügten CD finden sich zusätzlich 51 Klangbeispiele. Eine gewisse Leidenschaft beider Autoren für den 1. FC Köln ist unüberhörbar. Darum verdienen sie unser ehrliches Mitleid.

Reinhard Kopiez / Guido Brink: Fußball-Fangesänge. Eine FANomenologie. Verlag Königshauen und Neumann, Würzburg, 1998, 273 S., plus CD, DM 39,80