Signale aus den Kolonien

Nach einem Jahr Pause gibt es nun eine neue Nummer des telegraph. Mit Warnungen vor "Fremdherrschaft" sucht die Redaktion nach Lesern im Osten
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Anarchistisch angehaucht waren die Umweltblätter, die erste "Oppositionszeitung" in der DDR. Nach der Umbenennung in telegraph im Herbst 1989 suchte das Blatt mit dem wachsweichen Untertitel "behörden- und unternehmerunfreundlich" lange nach einem originären Standpunkt, der mal mehr in Richtung autonome Hausbesetzerszene, mal mehr in Richtung Bohleyschem Bürgerrechtlertum tendierte.

Die Hausbesetzerbewegung hat bekanntermaßen ihre beste Zeit hinter sich gelassen, die "Bürgerrechtler" wurden endgültig von der CDU gekauft - kein Wunder, daß die Bedeutung des telegraph beständig nachließ. Ein Jahr erschien das Din-A 5-kleine Heft nicht mehr, jetzt gibt es eine neue Nummer. Eine "erweiterte Redaktion", die sich aus dem Prenzlberger Soft-Autonomenmilieu rekrutiert, will sich mit dem neuen Untertitel "Ostdeutsche Quartalsschrift" "treu bleiben" und eine "selbstbewußte Ost-Position" stärken.

Programmatisch ist da die Schwerpunktsetzung des ersten Heftes: "Kolonie Ostdeutschland". Dabei bleibt die Redaktion sich vor allem insofern treu, als sie den herrschenden DDR-Diskurs stützt. Der telegraph feierte sich libertär als "Totengräber der SED", zu einer Zeit, in der DDR-Bashing als Teil antikommunistischer Hetze nach der Wende opportun war, und setzt nun, da alle Parteien von PDS bis Reps ostdeutsche Gefühlslagen bedienen, ganz auf Ostalgie.

In diversen Artikeln wird nachgewiesen, daß die DDR von den Westlern besetzt gehalten und der Osten gnadenlos durch den Westen ausgebeutet werde. "Ostidentität" wird als Chance für einen "neuen Raum für sozialistische Politik" verstanden, sie könne gar "revolutionäre Potenzen entfalten". Die Landtagswahl in Magdeburg hat gezeigt, daß der Osten in der Tat Potenzen für sozialistische Politik bietet - allerdings für national-sozialistische.

Wie klein der Schritt von Ostalgie zu Rassismus und Antisemitismus ist, beweist der telegraph mit seiner Argumentationsführung. "Herrschaft" sei auf dem Gebiet der ehemaligen DDR "nicht nur durch den Besitz von Fabriken und durch ein dickes Bankkonto gekennzeichnet, sondern vor allem dadurch, daß sie von außen kommt, eine Fremdherrschaft ist". Wer sind hier die Fremden? Die Westdeutschen? So ist das wohl gemeint. Besäßen Ausländer oder Juden die Fabriken oder die dicken Bankkonten, würde sich der Haß der telegraphen dann gegen diese richten? Doch die Tatsache, daß es durch die rassistische DDR-Politik, fortgesetzt durch die BRD nach der Wende, kaum Ausländer in Ostdeutschland gibt, macht diese Argumentation nicht harmloser.

Die Faschowelle auf den Straßen und jetzt auch im Landtag von Sachsen-Anhalt zeigt wieder einmal, daß Rassismus und Antisemitismus auch ohne Ausländer und ohne Juden funktionieren.

Die Projizierung alles Schlechten auf die Fremden, von außen Kommenden, fördert den nationalen Zusammenschluß, die Rückbesinnung auf die Volksgemeinschaft, die heimatlichen Interessen am deutschen, ersatzweise dem märkischen, mecklenburgischen oder Lausitzer Grund und Boden. Als besonders gelungen bezeichnet der telegraph dann auch einen Witz, der so geht: "Wann ist die deutsche Einheit vollendet? Wenn der letzte Ossi aus dem Grundbuch gestrichen ist." Hier geht es nicht darum, daß der Wessi ein böser Kapitalist ist und daher hassenswert. Hier wird die pure Angst des Ossis unterstützt, vor der Überfremdung, vor der Aneignung seines ihm durch Heimatrecht zustehenden Besitzes durch irgendwen von außen. Das ist auch der Boden, auf dem die DVU im quasi ausländerfreien Sachsen-Anhalt ihren rassistischen Wahlkampf führte und auf dem die NPD den deutschen Arbeiter mobilisiert.

Daß es die DDR-Bevölkerung selbst war, die mit Sack und Pack ihrem Begrüßungsgeld entgegenstürmte und sich Helmut Kohl an den Hals warf, paßt natürlich nicht ins Konzept des sogenannten "Kolonisierungsdiskurses". Dieser Aspekt findet daher auch keine Beachtung im telegraph. Statt dessen wird die "Eroberung des Ostens" ökonomisch erklärt. En détail weist ein Redakteur den Kapitalfluß von Ost nach West nach, was die Formulierung "Kolonie" rechtfertige. Denn "Merkmale für ein koloniales Verhältnis" seien "die politisch-ökonomische Dominanz, die Bereicherung des Mutterlandes und die Verarmung des kolonialisierten Gebietes". Dominanz durch wen?

Beutet der Wessi den Ossi aus? Oder ist es nicht vielleicht doch einfach so, daß der Geschäftemacher, der Unternehmer, den Konsumenten, den Arbeiter ausbeutet - wie überall?! Das Finanzkapital als fremdes zu definieren, ist eine in der deutschen Geschichte nicht neue und im Grunde antisemitische Angewohnheit. Den Kern jeder rassistischen Ideologie trifft man, wenn man das Verhältnis der beiden deutschen Staaten als das zweier Mutterländer bezeichnet. Hier wird die Abstammung, die Herkunft als Kriterium akzeptiert, dabei ist es erst einmal egal, für was. Entscheidend ist, daß die antirassistische Anstrengung, Menschen unabhängig von ihrer nationalstaatlichen und ethnischen Einordnung zu bewerten, ad absurdum geführt wird. Ebenso wie die linke Position, Menschen ausschließlich nach ihrem gesellschaftlichen Stand im Unterdrückungs- und Ausbeutungssystem (früher "Klassenzugehörigkeit") einzuordnen.

Warum ist ein Unternehmer, der vor der Wende einen BRD-Paß hatte, schlechter als einer, der einen DDR-Ausweis sein eigen nannte? Wenn dann noch die "Verarmung" und "soziale Verelendung" der bemitleidenswerten kolonialisierten - also offenbar hilflosen - Ostdeutschen angeklagt wird, gerät die Argumentation zur Paranoia. Klar gibt es ein ungerechtes soziales Gefälle West-Ost. Dennoch hat sich im Osten nach der Wende das allgemeine Wohlstandsniveau erhöht. Zwar gibt es jetzt eine nach unten offene soziale Hierarchie, die eine vorher unbekannte soziale Angst mit sich bringt. Aber in derselben Dresdner Straße, in der 1990 noch zwei Trabbis verloren herumstanden, gibt es heute weit und breit keinen Parkplatz mehr.

Der rechtsextreme Aufschwung Ost, der eine Fremdenfeindlichkeit zur Grundlage hat, die den Fremden aus dem Westen ebenso umfaßt wie den fremden Bauarbeiter aus Polen, stützt sich auf Ostalgiker aller politischen Spektren, die die Fremdheit jemandem gegenüber nicht in einem Unterdrückungsverhältnis, sondern in einer fehlenden Heimatverbundenheit oder kulturellen Unterschiedlichkeit suchen. Wenn man dann noch berücksichtigt, daß DDR-Nostalgie auch die autoritären, ordnungspolitischen und militaristischen Züge der DDR verklärt, wird deutlich, wie in verschiedener Hinsicht Ostalgie und Ostidentitätshuberei zum Einfallstor des Faschismus werden kann.