Währenddessen ganz woanders

"Lilli & Poldi": Ein Jahrhundertereignis wird 100. Der zuständige Redakteur bemüht sich um eine Würdigung.

Dies hier wird ein sehr persönlicher Text. Ich weiß, daß viele Menschen das nicht mögen. Ihnen möchte ich zurufen: Niemand muß diesen Text lesen! Sicher, Sie haben vier Mark für diese Zeitung ausgegeben und werden nun bitter enttäuscht sein. Aber man muß wirklich nicht alles lesen. Wer schafft es schon, sich durch 23 Sprechblasen in einem "Lilli & Poldi"-Strip zu kämpfen? Eine Zumutung!

Auch die Charaktere in "Lilli & Poldi" sind eine Zumutung. Warum sieht Oma Geddon aus wie Popeye? Warum ist Batman nicht mehr dabei? Und warum fängt gleichzeitig der Alleinunterhalter an, Batman immer ähnlicher zu werden? Oder Antennengirl zum Beispiel. Nicht nur, daß sie andauernd implodiert, nur um dann in doppelter Gestalt wieder auzutauchen - im übrigen bin ich mir sicher, daß nach der Episode mit dem Teilchenzersetzer über Robotterramm noch nicht das letzte Wort gesprochen ist -, darüber hinaus ist Antennengirl auch noch zu "großbusig und freizügig". Das meint zumindest Manuela aus Ahrensburg: "Ich will diesen blödsinnigen Comic nicht mehr." Recht so! "Extrem frauenfeindlich", lautet das Urteil. Dabei ist doch noch gar nicht raus, ob unser guter Bilic« nun wirklich was mit Antennengirl hatte - und erst recht nicht, mit welcher von beiden. Ich hoffe, daß Du, Manuela, mit dem weiteren Gang der Geschichte in dieser 100. Folge wieder versöhnt bist.

Und schon sind wir beim Anlaß dieses Textes. "Lilli & Poldi" wird 100 - ein Comic-Strip, in dem es schon längst nicht mehr nur um Lilli und Poldi geht. Als Lilli und Poldi am 28. März 1996 das Licht der Welt erblickten, fummelten sie noch eher zaghaft an einem Fahrkartenautomaten der Berliner U-Bahn herum. Damals wußten sie noch nicht, daß sie nur Teil eines unüberschaubaren Universums sind, das aus verschiedenen Parallel- und Gegenwelten besteht. Ist ja auch eine irritierende Vorstellung: Fröhlich pfeifend macht man sich auf den Weg zum KaDeWe, um dort gefälschte Karl-May-Biographien zu verkaufen - und schon sieht man sich einer Verschwörung der gewalttätigen Fünf gegenüber.

Halt, das geht jetzt etwas zu schnell. Schließlich dauert es geschlagene 64 Folgen, bis die gewalttätigen Fünf in Erscheinung treten. Aber sie sind eben nur fünf von zirka 40 Charakteren, die in den vergangenen 99 Folgen für Verwirrung gesorgt haben.

Da sind zunächst Lilli, die in Teil 32 zu Lilli Lapilli wird, und Poldi, der in Teil 43 unter Einfluß übler Foltermethoden auf die Seite der Zeihentologen wechselt, sowie eine alte Frau, die in Teil 3 auftaucht, nur um in Teil 5 schon wieder erschossen zu werden. In Wirklichkeit war sie natürlich Agentin M-113 im Dienste von Onkel Fred und seinen nützlichen Idioten. (Nebenbei: Was ist eigentlich aus Onkel Fred geworden?) Dann treten auf: der Heilige Geist, der irre Fliesenleger mit seiner Wankelmaschine, zwei bekannte Figuren von (c) TOM und Brummer Bär, der Gott ein Stück von seinem Finger abbeißt und daraus Gottes Sohn, Bon Jovi, gebiert. Danach wird Brummer zum sägemehlsüchtigen Zombär. Eine traurige Geschichte, die damit endet, daß Brummer Lungenkrebs von der anstrengenden Arbeit in den Tabaksminen bekommt. Gott selbst hat seinen Auftritt alias Luplow. Weiter: das Quentchen Glück, die Mutter des Fliesenlegers und der Stein der Waisen. Dr. XXX, Professor Rosseforp, Karen Buchanon und Grant Morrison werden zwar als Personen eingeführt, treten aber nie als gezeichnete Figuren in Erscheinung.

Nach einem Jahr "Lilli & Poldi" behauptet Anwalt Gregor G.: "Alles, was ich weiß, habe ich von 'Lilli & Poldi' gelernt", und versucht anschließend, den bisherigen Handlungsgang zu erläutern. Danach tauchen der Komet Hale Bopp, die Heaven's Gate-Sekte, Special Agent Fox Mulder und ein Außerirdischer namens Marshal J. Manunter auf, wobei letzterer sich später als die japanische Agentin Yoko Yamurata entpuppt.

In Teil 64 greift Fil in die Geschichte ein und löst L.G.X. Lillian Mousli von ihrem Job als "Lilli & Poldi"-Zeichnerin ab. Mit ihm kommen die gewalttätigen Fünf in den Strip: Charles Ignalls, der Visionär, der sich in Teil 68 in etwas unaussprechliches, in einen Chwghhld oder einen Mhxlhm verwandelt, aus dessen Gestalt er als Rabbi Schulmann steigt, nur, damit sich später zeigen kann, daß er in Wirklichkeit Philip Tägert heißt, was, wenn man die Buchstaben umstellt, Härgeittlpip bedeutet und eigentlich der geheime Name Gottes ist. (Dabei ist Gott doch schon in Teil 13 als Luplow aufgetaucht. Ein Fehler? Eine weitere Schlamperei? Oder Teil einer zukünftigen Verschwörung?) Caroline Ignalls als Antennengirl, von der am Anfang schon die Rede war und die gleich bei ihrem ersten Auftritt implodiert, später aber als zwei Antennengirls wieder auftaucht. Bill Itch, der Haufen, der sich einbildet, eine Affäre mit Antennengirl gehabt zu haben. Almanzo Wilder, der Alleinunerhalter - ein Korea-Veteran. Und Robb "Krk" Robotterramm, der in seinem früheren Leben der treue Hund von Al war, jedoch leider viel zu früh an Lungenkrebs verstarb und deshalb in eine unsterbliche Roboterhülle transplantiert werden mußte.

In der Gegenwelt (ab Folge 66) treffen wir Bilic«, Elke X (die Gegenlilli, die in Wirklichkeit Oma Geddon ist - des Teufels Großmutter) und den Naatz (der Gegenpoldi, oder auch Oliver Naatz, was aber nur ein Anagramm für Or Evil Zatan ist - der Teufel selbst).

Es folgen: das böse Licht, der große Unbekannte, der eigentlich Rabbi Coolman ist, die Wahrheit über Nathan der Weise in der Fassung von Bob Woodward, Rabbi Schwulman, Rabbi Swimmingpoolman, Superman, Batman, der eigentlich Benni Goodman heißt und Rebbe Klein. Zu diesem Zeitpunkt hatte OL sich mit einem verzweifelten Versuch, den stringenten Handlungsfaden zu verwirren, in die Geschichte eingemischt und dabei ein paar Figuren geschaffen, von denen nie wieder die Rede sein sollte.

Danach treten noch auf: Helmut Kohl als Poldis Schwanz, Sheng-Fui, der Taschendämon, zwei amerikanische "Lilli & Poldi"-Fans und Leonard Nimoy.

Ein Tableau von wahrhaft Dostojewskischem Ausmaß.

"Ich weiß, was Sie jetzt denken, und Sie haben recht." Als Thomas Magnum, p.i., dies sagte, hatte er sicherlich nicht im Sinne, daß es nach 100 Folgen nun endlich an der Zeit sei, diesen Strip abzusetzen, wie Sie jetzt denken. Vielleicht haben Sie ja auch tatsächlich recht, schließlich wurden vor drei Wochen auch die Wiederholungen von "Magnum" im RTL-Nachtprogramm abgesetzt. Alles nur ein sonderbarer Zufall? "Nein, Tim, das glaube ich nicht", höre ich schon Al, den Assistenten von Tim Allen in Tim Allens "Hör mal, wer da hämmert", sagen. Aber die Heimwerker-Soap wurde schließlich gleich mit aus dem Programm genommen. Zwar behauptet Naatz zu wissen, daß bereits an einer neuen Staffel gearbeitet wird, aber das glaube ich nun wieder nicht. Den Rat, den Wilson, Tims benachbarter Philosoph, uns hier geben könnte, werden wir nicht mehr bekommen. Außerdem werden wir wohl nie erfahren, ob Jonathan Higgins wirklich Robin Masters ist.

Ich weiß nicht, ob das geht, aber hier kann man es ja vielleicht mal sagen: Mein Lieblingssong ist "Shake Baby Shake" von der Band Lush. Kurz nach der Aufnahme der Platte kam der Trommler Chris Ackland ums Leben, durch Krebs, Herzversagen oder Erschießung - ich weiß es nicht mehr so genau. Aber diese Maxi mit dem einen heiteren und den vier traurigen Liedern fehlt in den Credits zu "Lilli & Poldi".

Wer noch fehlt, ist Klaus. Er läßt zwar keine Gelegenheit aus, sich darüber lustig zu machen, daß der Naatz eine Schwuchtel sei, aber er mag Fils "Didi & Stulle". Dafür braucht man wirklich Humor. Klaus hat ihn.

Wenn es all das gibt, wenn Magnum und Tim Allen auf einen Schlag abgesetzt werden, warum, so fragen Sie sich jetzt sicher, sollte dann nicht auch "Lilli & Poldi" (Fil: "Der beste Comic der Welt.") eingestellt werden? Wann, wenn nicht jetzt? fragen Sie zu Recht. Man hätte gemeinsam mit RTL eine Presse-Erklärung herausgeben können, in der begründet wird, warum man heute in der Öffentlichkeit keine sinnvollen Dinge mehr tun kann, weil es inzwischen viel zu viele Arbeitslose gibt - Menschen wie Wilson, die ihre Zeit darauf verwenden, sich die Welt so zu erklären, wie andere sie nicht sehen wollen.

Genau das macht aber "Lilli & Poldi" jede Woche. Es geht um "die menschlichen Qualitäten", wie Oliver Naatz in seinem Nachwort zum ersten "Lilli & Poldi"-Band schrieb. Das Werk ist übrigens immer noch erhältlich ("Gehet endlich hin und kauft 'Lilly & Poldi'", Zitty, Berlin). Und tatsächlich ist "Lilli & Poldi" eine Metapher auf das Leben in unserer Zeit: Liebe, Haß, Freundschaft, Intrigen, Sex, Gewalt, Kaffee und Nikotin.

Daher möchte ich an dieser Stelle eine Lanze für "Lilli & Poldi" brechen.

Krrrcks.

Schade um die schöne Lanze, sie war echt antik, 18. Jahrhundert. Vielleicht hätte man sie noch für etwas Nützliches gebrauchen können. Für eine prima Kampfszene in einem zweitklassigen Kung-Fu-Film zum Beispiel. Oder Morgen beim Frühstück zum Aufschlagen der Eier. Sei's drum.

100 Folgen "Lilli & Poldi". Es ist kaum zu fassen. Legte man alle "Lilli & Poldi"-Strips aneinander, so käme dabei eine Strecke heraus, die von der Redaktion bis zum Zeitungsladen in der Wiener Straße reichte! Würde man sie alle vor meinem Bildschirm aufeinander stapeln, so wäre die komplette untere Monitorhälfte nicht mehr zu sehen!

Im Herbst soll nun der zweite "Lilli & Poldi"-Sammelband erscheinen. Das dürfen Sie sich nicht entgehen lassen, denn in einem fort gelesen macht dieser Comic Sinn! Hinter all dem steckt ein größerer Plan, den zu erkennen wir alle nur zu blind sind.

Hin und wieder treffe ich den Naatz an der Kasse eines Kinos, in das ich nur gehe, weil es gleich bei mir um die Ecke ist. Ich bekomme dann immer eine Freikarte für den Film und muß mir dafür anhören, daß wir doch nun endlich mehr Geld für den Strip zahlen sollten. Dabei sagt Fil, daß auch Zitty fast so schlecht bezahlt wie wir. Wenn ich jetzt auch noch anfangen würde, zu beschreiben, welche Szenen sich abspielen, wenn Naatz und Fil uns in der Redaktion besuchen, um ihre Zeichnungen abzugeben, würde dieser Text wohl niemals enden.

Wie gesagt, man muß es nicht unbedingt gelesen haben.