Das Ei der Adorniten

Was die Anhänger der Kritischen Theorie am Tamagotchi stört und warum sie mit Purikura keine Freude haben werden.

Wenn Linke die These von der Entfremdung veranschaulichen wollen, bevorzugen sie auffallend häufig Beispiele aus dem kulturellen Bereich. Besonders verdächtig scheint ihnen dabei das Freizeit- und Konsumverhalten der Menschen zu sein. Vor allem die Discothek mußte immer wieder herhalten, wenn es um den Nachweis ging, daß das kapitalistische Individuum ständig nicht bei sich selbst ist: "Sprachlos und in maschinellem Rhythmus arbeiten sich Menschen durch die Techno-Disco. Die Kälte der Vergnügungssüchtigen untereinander spiegelt die Kälte der modernen Produktionsästhetik." Es ist eher nebensächlich, wer dieses Verdikt in welcher linken Publikation formulierte, weil in der Linken eine (sich teils auf Lenin und teils auf Adorno berufende) Richtung existiert, die solche "Kulturkritik" für eine Aktualisierung der Marxschen Intention hält. Seit November 1996 bot sich neben der Discothek ein noch dramatischeres Beispiel an, das den Trend zum "gesellschaftlichen Eiszeitklima" endgültig auf den Punkt zu bringen schien - das Tamagotchi.

Daß dieses Tierchen, das auf einem Minibildschirm virtuell großgezogen, gefüttert, liebkost oder auch vernachlässigt wird, die Herzen von Millionen Kindern und Jugendlichen erobern konnte, kam für etliche orthodoxe Adorniten und andere Anhänger einer kulturkritischen Lesart der Marxschen Werttheorie dem endgültigen Verschwinden jeder Hoffnung auf Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse gleich. Dahin hat uns der Kapitalismus also gebracht, daß wir nun schon Minicomputer wie echte Lebewesen behandeln! Kälter konnte diese Eiszeit offenbar nicht mehr werden.

Wie konnte es dazu kommen, daß Jugendliche nachts aufstehen, um einen Computer zu füttern und todtraurig sind, wenn das Ding wegen unsachgemäßer Behandlung (also Nichtbeachtung der einprogrammierten Abläufe) seinen Ungeist aufgibt? Jetzt konnte es keinen Zweifel mehr daran geben, daß diese Gesellschaft sich in ihrer Entfremdung häuslich eingerichtet hat. Daß es kein richtiges Leben im falschen geben konnte, wußten wir ja schon, aber daß das falsche Leben den Leuten auch noch Spaß zu machen scheint, deutet darauf hin, daß wir nun das Ende der Fahnenstange erreicht haben. "Hier hat die Kulturkritik beschämt zu verstummen, denn angesichts der um sich greifenden Herrschaft des Elektrohuhns gibt es keine Kategorien mehr, auf die sie sich noch ernsthaft berufen könnte. Das Tamagotchi befriedigt keinerlei Bedürfnisse, außer dem einen, nämlich etwas Unvorhersehbares und doch Unbedrohlich-Beherrschbares in die eigene todlangweilige, aber wirtschaftlich ständig gefährdete Spätkapitalismus-Existenz hineinzutragen. Das Stubenküken ist der ideale Partner der modernen Autisten ..."

So oder alarmierten im vergangenen Jahr tatsächlich mehrere linke Zeitschriften ihr Publikum. Dieser "negativen" Geschichtsphilosophie entgeht allerdings der Effekt, den sie selbst produziert: Weil die gesellschaftliche Wirklichkeit nach dieser Lesart kein Indiz für Kräfte und Konstellationen erkennen läßt, die der sich vervollständigenden, universalisierten und wie ein "Bann über der Gesellschaft" liegenden Entfremdung widerstehen könnten, muß der entfremdeten Totalität ein normatives Bild von der "wahren Natur" der menschlichen Bedürfnisse entgegengehalten werden.

Zum Beispiel der Teddybär: Im Lichte der Kritik am Tamagotchi-Ei erscheint er als guter Freund aus den Tagen vor der Entfremdung. Ihn konnte man noch an sich drücken und richtig lieb haben. Ebenso die Spielzeugpuppe, die immerhin noch menschliche Züge hatte, während aus dem Computer-Ei alle Menschlichkeit vertrieben wurde.

Nun sollte man denken, daß auch bekennenden Adorniten und Werttheoretikern die "entfremdete" Abstraktionsleistung nicht entgehen kann, die ein Kind mobilisiert, wenn es ein als Bär modelliertes Stoffknäuel wie ein lebendes Tier liebkost oder so tut, als sei die Plastikform eines Babys sein bester Freund. Aber so, wie aus dieser Sicht die Welt noch halbwegs in Ordnung zu sein schien, als Rock noch "von Hand gemacht" wurde, so wird der Zeitpunkt des "Niedergangs" und der endgültigen Zerstörung einer "ursprünglich" intakten Individualität generell mit Beispielen aus der eigenen Erfahrungswelt bebildert. Und diese seltsam moralisierende, linkskonservative Kulturkritik, die offensichtlich auf die Entwertung des eignen kulturellen Kapitals reagiert, es so aber nicht sagen kann, hält sich selbst für angewandte Kritik der politischen Ökonomie. Tatsächlich handelt es sich hier jedoch um die Verwandlung der Kritik der Warenform in konservativen "Kulturpessimismus", der wiederum (wie übrigens auch der "Optimismus") eine soziale Selbstpositionierung ist, die ihre eigene Distinktionabsicht leugnet.

Seit einiger Zeit können die Freunde des Teddybärs jedoch etwas entspannter sein: Das virtuelle Tamagotchi ist, nachdem davon weltweit vierzig Millionen Stück zum Preis von rund 30 Mark verkauft wurden, megaout. Aus Japan, dem Land, das der Welt das Tamagotchi beschert hat, kommt nun mit dem "Print Club" (Purikura) das ganz neue Ding. Und dieses Mal steht zur Abwechslung wieder der authentische Mensch im Mittelpunkt: Purikura ist eine Fotomaschine, die kleine Blocks mit Stickern ausdruckt, welche etwas kleiner als Paßfotos sind. Anders als bei den langweiligen Fotoautomaten kann man dabei Hintergrund und Vordergrund beliebig manipulieren, z.B. Namen einzeichnen, eine Comicfigur ins Bild rücken, den eigenen Kopf auf andere Körper setzen und die ganze Szene vor dem Hintergrund des Eiffelturms stattfinden lassen. Purikura-Fotos kann man sammeln, tauschen und auf Briefe und Schulhefte kleben. In Japan sind diese Automaten mittlerweile allgegenwärtig; in Europa wird ihre Einführung nicht lange auf sich warten lassen.

Was diesen neuen Trend hervorbringt, entzieht sich jedoch, wie schon beim Tamagotchi, einer als Werttheorie designierten Kulturkritik. So wie es Marx in seinen Frühschriften nicht gelungen war, den "Umschlag" von der als ursprüngliche Wesensbestimmung gefaßten Selbstverwirklichung der Gattung zur Entwirklichung ohne Geschichtsphilosophie zu formulieren, so kann eben eine Position, die ihr eigenes kulturelles Unbehagen nicht als solches erkennt, weil sie es in die als "objektiv" vorgestellten Begrifflichkeiten einer ökonomischen Theorie kleidet, den Zusammenhang von ökonomischem und kulturellem Verhältnis nicht formulieren. Marx' Ausführungen über den "Warenfetisch" im "Kapital" sind aber nicht als Zeitgeistkritik konzipiert. Als Fetische bezeichnet er dort nicht Waren, die besonders begehrt oder besonders "verwerflich" sind, weshalb wir annehmen dürfen, daß er seinen Töchtern gerne ein Tamagotchi geschenkt hätte. Fetischismus ist bei ihm vielmehr der Effekt, der die Verhältnisse so aussehen läßt, als seien die im Tauschverkehr bewegten Arbeitsprodukte die wirklichen gesellschaftlichen Agenten.

Für eine Kritik der politischen Ökonomie, die weiß, daß Ökonomie zugleich politische und kulturelle Ökonomie ist, könnte die Ablösung des Tamagotchi durch die Purikura-Sticker ein interessantes Thema sein. Genauer gesagt, sind die Sticker ein Beispiel für die historische Bedeutung des Massenkonsumenten für das Funktionieren der kapitalistischen Reproduktion: In Europa und Japan fand die Kapitalisierung zunächst relativ unabhängig von den Konsumweisen der breiten Massen statt, d.h. die private Endnachfrage der Lohnarbeiter/innen bildete im Kapitalkreislauf zunächst keine relevante Größe. Die Rückverwandlung der Waren in Geld und Mittel der erweiterten Reproduktion erfolgte auf anderen Wegen: Die Produktionsmittelindustrie realisierte ihren Mehrwert durch Verkauf innerhalb der eigenen Abteilung, durch Verkauf an den Staat (Eisenbahnen, Militärwaren etc.), durch Export, durch Umsatz mit Landwirtschaft und Handwerk und durch Verkauf an die Konsumgüterindustrie. Letztere spielte hierbei lange Zeit keine große Rolle.

Erst die Lösung des Massenkonsums vom traditionellen Sektor, dessen eigene Umwandlung und sodann das Wachstum und die gestiegene Produktivität in der Konsumgüterproduktion, führten zu einer neuen Konsumstruktur und Lebensweise der (sich in dem Prozeß auch ausdehnenden) lohnarbeitenden Bevölkerung. Die Integration der Lohnabhängigen in den kapitalistischen Gesamtprozeß war damit auch hinsichtlich des Kaufaktes vollbracht. Die Figur des Konsumenten wurde nun nicht nur eine Massenfigur, sondern auch vom Standpunkt des Kapitals real wichtig. Ihre Umwerbung, ihre Ansprache als "König Kunde" ist seither nicht mehr bloße Ideologie. Das Käuferverhalten der "kleinen Leute" zu stimulieren, es mittels Werbung, Konsumentenkrediten, Veränderungen der staatlichen Zahlungen etc. zu beeinflussen, wurde seither zur eigenständigen Wissenschaft und Politik.

Auch in Japan, wo die Konsumenten lange Zeit nicht viel galten, weil relativer Konsumverzicht als Voraussetzung der Exportsteigerung galt, wurde, nachdem die Exportmärkte langsamer wuchsen, dem Inlandskonsum mehr Raum gegeben. Das Tamagotchi-Ei und die neuen Sticker-Maschinen sind lediglich die besonders populären Resultate einer neuen Konsumentenpolitik. Weil, was produziert wird, auch konsumiert werden muß, gilt, daß man das Neuste vom Neuen unbedingt haben muß. Die Begriffe Bedürfnis und Nützlichkeit sind unter diesen Voraussetzungen zu eng gefaßt, wenn sie im Sinn einer Grundversorgung verstanden werden. Abgesehen davon, daß auch das Interesse an virtuellen Tieren und hübschen Stickern ziemlich dringlich sein kann, ist dagegen überhaupt nichts einzuwenden.

Das sah übrigens auch Marx so, dem schon 1851 während seiner Vorarbeiten zum "Kapital" die kulturell-ökonomische Dimension dieses Zusammenhangs aufgefallen war. In seinen "Reflections" betitelten diesbezüglichen Notizen heißt es deshalb: "In dem Austausch von Geld gegen Waren, in diesem Handel von dealers und consumers, ist der Fabrikant so gut consumer, wenn er beim Krämer kauft, als sein Arbeiter. Der Bediente hat dieselbe Ware wie der Herr, für denselben Geldwert. (...) Daher die Illusion, in diesem Akt des Kaufens und Verkaufens nicht das Klassenindividuum, sondern das kaufende Individuum schlechthin, ohne Klassencharakter, zu sehn. (...) Der Umfang und die Art der Gegenstände, die die größte Klasse der consumers, die Arbeiter kaufen, ist durch die Natur ihres Einkommens selbst beschrieben. Allerdings kann der Arbeiter in Schnaps sein Salär versaufen, statt seinen Kindern Fleisch und Brot zu kaufen, was er bei der Naturalzahlung nicht kann.

Andrerseits kann die Arbeiterklasse für das, was sie über die notwendigen Subsistenzmittel hinaus erübrigt, statt Fleisch und Brot sich Bücher und lectures und meetings kaufen. Sie hat ein größeres Mittel, die allgemeinen Mächte der Gesellschaft, wie die intellektuellen, sich anzueignen. Wo die Art des Einkommens noch bestimmt ist durch die Art des Erwerbs selbst, nicht bloß, wie jetzt, durch die Quantität des allgemeinen Tauschmediums, sondern durch die Qualität seines Erwerbs selbst, sind die Beziehungen, in die sie zur Gesellschaft treten und sie sich aneignen kann, unendlich bornierter (...)"