Der Mann ohne Menisken

Der neue Trainer von Fortuna Köln kommt vom benachbarten FC. Eine Schumacher-Charakterstudie in Selbstzeugnissen

1987 war's, da verspürte der Kölner Torwart Toni Schumacher das dringende Bedürfnis, seine positions- und berufsbedingte Klausur zu überwinden. Also schrieb er das Buch "Anpfiff", "die Möglichkeit meiner Isolation zu entkommen" per "Selbsterforschung", wofern, wie sein Teamchef Beckenbauer analysierte, Schumacher "in seinem Körper wie in einem Gefängnis lebt". Allein, dieses Projekt rechnete man ihm keines wegs "hoch" an. Sondern jagte ihn darob derart zum Teufel, daß die "Enttäuschung" nicht tiefer hätte sitzen können und die Anglegenheit einem riesigen Anschiß und beinahe vorzeitigem Karriere-"Abpfiff" gleichkam.

Indes, Schreiben ist Selbsterkenntnis, wußte Toni, und Selbsterkenntnis schmerzt; schmerzt ähnlich dem Anblick der "Sportskanone der Vergangenheit", Lew Jaschin, die er in Moskau traf und die, nicht mehr voll auf Draht oder Strom, "wie ein ausgebrannter Formel-1-Wagen ohne Motor so alt", ihm, Toni, erklärte: "Ihnen ist ein Ehrenplatz unter den Großen schon sicher, gleich neben Sepp Maier. Ich freue mich." Wenig erfreut war Toni über seinen bereits 1984 (Herbst) frühzeitig gescheiterten Versuchs, den Rekord des Münchners Maier einzustellen, nämlich 400 Spiele ohne Unterbrechung zu absolvieren, eigentlich plus eins, also 401. Kölns Präsident Pete Weiand hatte Toni einfach mal gegen Waldhof Mannheim gesperrt, die blöde Sau. Bei 213 Partien und "trotz Verletzungen" riß der Faden unwiderruflich und entzwei.

1968, Toni wollte Weltmeister werden, die Chance komme eventuell nie wieder, diese einmalige Gelegenheit, für jeden Spieler ist das der Traum schlechthin, Weltmeister werden nach bumsgeraden Pfeilparaden, Tophaltungen, Bestnoten wolle man sich verdienen, hechten, grätschen, springen, fangen, vielleicht auch mal abklatschen, ja, abklatschen nach neunzig dramatischen Minuten, der Menschenmengenmeute das Maul stopfen, während er segelte und flog und eierte und sehnig-sehnsuchtsvoll sprang und wieder segelte durch den Strafraum wie Lohengrin, der seinen Schwan verpaßt, einen verdammten, lächerlichen Ziegenbockhupfer ins Leere veranstaltet und das Leder in die Maschen rauschen sieht und nach innen stumm aufschreit, und die Masse tobt. Die Neutralisation Maradonas durch Matthäus hatte nichts gebracht.

Wind im Kopf. Toni war schuld. Toni hielt wie ein Arsch. Späterhin dachte er nach: "'Ein guter Tormann ist ein Spieler, der mehrfach seine Mannschaft durch individuelle Handlungen, durch Überschreitung seiner Machtbefugnisse in einer eigenwilligen Situation gerettet hat.' So hat es der französische Philosoph Jean-Paul Sartre gesagt. Recht hat er." Das schien gewissermaßen eine Erleichterung und Entlastung von der Pein.

Das Grunddilemma des Torwartes sei, überlegte Toni ein andermal, daß er praktisch per definitionem fußballwidrig agiere, sein Trachten und Streben auf die Zerstörung dessen ziele, woran ihm und nicht zuletzt dem Zuschauer am meisten gelegen sei, weshalb der Spanier den Keeper seit jeher geringschätze oder verachte, sofern der Mann im Gehäuse seinen Kasten sauber zu halten gedenke und dem Fußballsport potentiell das Wasser abgrabe, dessen Telos destruiere und wenig zu einer Steigerung der allgemeinen Attraktivität des Spiels beitrage, in contradictio hart daran arbeite und dafür Extraschichten schufte, ihn, den Fußball, kaputt zu machen, bis er ganz am Arsch sei - als ob die rückläufigen Zuschauerzahlen nicht schon das Ihrige täten! -, also keineswegs einfach so die Weisung hinnehmen wolle, mal ein, zwei Dinger extra reinzulassen. Das schmerze. Aber "Fußball ohne Tore ist wie Kapitalismus ohne Pleiten", überlegte der Toni dieses Problem abschließend, und also bleibt alles wie gehabt bestehen und gut.

Und da war sonnenscheinlich klar: "Der Unterschied zwischen Amateur- und Profifußball ist wie der zwischen Himbeereis und einem Wolkenkratzer", zwischen Scylla und Charybdis, Bett und Bohne. Unter Weisweiler und dessen Arzt-Assistent Dr. Bonnekoh erlernte Toni gleichwohl gleich das autogene Training und den Expressionismus: "Elfmeter sind Tortur (...), Reflexe bändigen, im letzten Sekundenhundertstel hervorschießen. Empfindungserweiterung. Denken und Überlegen einfach abschalten. Beim Elfmeterschießen ist der Torwart für die anderen Spieler das, was der Verrückte für den Normalen ist. Er ist Blitzefänger." Wem sei Dank? "Frau Dr. Schnecking verdanke ich es, daß ich meine Verrücktheit in ganz bestimmte Bahnen lenken kann."

Und so ritt das Leben dahin. Schumacher ritt problemlos, alles in allem, mit, ritt Attacken gegen eine schmähliche BamS-Frau und ihre "verbalen Aasgeierkrallen", sang Maffay ("... schlagt mich tot, erst dann könnt ihr ganz sicher sein, daß ich mich nicht mehr wehren werde"), fragte sich: "Wollte man den Sportler Schumacher sterben sehen?", riß das Ruder aber rum ("Wenn ich jetzt gehe, bin ich ein feiger Arsch"), mittenmang durchs Purgatorium (Paris St. Germain! - "Am Schluß der Partie (blieben) nur noch etwa 5 000 ungewinnbar" für ihn, Schumacher) und durch das Tal der "vermaledeite(n) Schlaftablettenschluckerei" irgendwie immer ziemlich geradeaus vorwärts zum Erfolg; und der lautete schließlich nicht mehr: "Doping und Fußball? Ist das überhaupt denkbar?" Da war Schluß. No more hope auf Köln-Präsidentschaft und den Posten des Karnevalsprinzen. "Die eigene Leistungsgrenze", bilanzierte der Gescheiterte, "wird überschritten, fast vergewaltigt."

Im September 1986 lief Toni in die Arme der "Wölfe der Depression". Seine Frau Marlies und Tonis Manager Rüdiger retteten ihn. "Hör auf!" Und Toni hörte auf.