Nation gut, Multi schlecht?

Die Legende von der Ent-Nationalisierung des Kapitalismus stimmt zumindest für Deutschland nicht

"50 Jahre Gatt/WTO - Kein Grund zum Feiern" lautet das Motto eines aktuellen Dossiers der Sozialistischen Zeitung, die unter anderem vom PDS-Bundestagsabgeordneten Winfried Wolf herausgegeben wird. Für die Ökofeministin Maria Mies droht durch den freien Waren- und Kapitalexport, mit den internationalen Gatt-Vereinbarungen vor fünfzig Jahren in ein neues Stadium getreten, "die endgültige, nun auch politische Weltherrschaft der multinationalen Konzerne, das Ende sowohl des Nationalstaates als auch des Sozialstaates". Und selbst die ansonsten gut informierten Analysten des linksgewerkschaftlichen ISW-Wirtschaftsdienstes prophezeien: "Nationen werden abgeschafft".

Ursache für solche Kassandrarufe ist die sprunghaft gestiegene transnationale Investitionstätigkeit der Großkonzerne, die zu einer weltweiten "Fusionitis" (Handelsblatt) geführt hat. Der Wert der weltweiten Übernahmen und Zusammenschlüsse lag 1997 bei 1 300 Milliarden US-Dollar - diese historische Rekordsumme übertrifft zum Beispiel die gesamte jährliche Wirtschaftsleistung Italiens. Zwei Drittel weniger war der addierte Wert der konventionellen Auslandsinvestitionen, also ohne Übernahme ganzer Unternehmungen - mit knapp 400 Milliarden US-Dollar war aber auch dies mehr als je zuvor. Diese Internationalisierung des Operationsgebietes großer Konzerne bedeutet jedoch zumindest im Falle deutscher Unternehmungen keineswegs eine Internationalisierung der Verfügungsgewalt über den Kapitalstock.

Dies zeigt sich etwa am Fall des aktuellen Mega-Mergers des Daimler-Benz-Konzerns. "Die eigentliche Botschaft ist: Ein deutsches Unternehmen kauft einen Amerikaner", faßt der SPD-Wirtschaftsexperte Siegmar Mosdorf zusammen. Die Fakten: 57 Prozent der Kapitalbasis werden von bisherigen Daimler-Aktionären gehalten werden, nur 43 Prozent von bisherigen Chrysler-Aktionären.

Da aber auch unter den Daimler-Shareholdern nicht nur deutsche Staatsbürger sind, kommt einem zweiten Faktor noch größere Bedeutung zu: Mit dem Zusammenschluß entsteht eine Aktiengesellschaft nach deutschem Recht mit Sitz in Deutschland. Mag auch der Konzernvorstand paritätisch besetzt sein, in Streitfällen wird die Aktionärsversammlung entscheiden. Dort aber haben deutsche Banken das entscheidende Gewicht: Eine Spezialität des deutschen Rechtssystems ermöglicht, daß die Masse der Kleinaktionäre ihr Stimmrecht an ein Finanzinstitut delegiert, so daß etwa die Deutsche Bank weitaus mehr Stimmen auf einer Aktionärsversammlung einbringen wird, als es ihrem eigenen Anteil (bisher 22, künftig zwölf Prozent) entspricht.

Dieses "Depotstimmrecht" der Banken ist, über den Einzelfall Daimler hinaus, der deutsche Joker bei Übernahme- und Verschmelzungsprozessen. Bei den wichtigsten 19 inländischen Konzernen halten die deutschen Banken einen Stimmrechtsanteil von 82,7 Prozent, die fünf Großbanken bringen es allein bereits auf 46,3 Prozent. Immer wieder haben sie ausländischen Zugriff auf die BRD-Industrie abgeschmettert - Fusionen in Deutschland sind in aller Regel deutsche Fusionen.

So sorgte die Deutsche Bank in den siebziger Jahren dafür, daß die kuwaitischen Ölmilliardäre bei Daimler Benz nur eine Minderheitsbeteiligung kaufen konnten (im Klartext: Sie geben Kapital, ohne über dessen Verwendung entscheiden zu können). Als sich 1991 die Gerüchte über ein take over der Dresdner Bank verdichteten, stockte die Allianz-Versicherung ihre direkte und indirekte Beteiligung an dem Bankriesen auf de facto über 50 Prozent auf - nichts ging mehr gegen ihren Willen. Deutsche und Dresdner Bank gemeinsam organisierten schließlich Anfang der neunziger Jahre einen Aktienpool zur Verteidigung des deutschen Reifenherstellers Continental gegen die Akquisition durch die italienische Pirelli.

Trotzdem zeichnen die Denationalisierungstheoretiker immer wieder ein völlig falsches Bild von der Globalisierung: "Schon morgen kann der nächste deutsche Großkonzern zur Fusion anstehen - unter anderen Vorzeichen. Japaner und Amerikaner würden nicht davor zurückschrecken, auch Herzstücke der deutschen Wirtschaft in ihre Imperien zu transplantieren. Alles ist denkbar: Die Deutsche Bank als Filiale der Bank of Tokyo? BMW als Sportwagendivision im General-Motors-Konzern? Siemens als Teil von General Electric?", heißt es im Spiegel-Schwerpunkt nach der Daimler-Fusion. Dies überschätzt nicht nur grotesk die Finanzstärke insbesondere der schwer angeschlagenen japanischen Wirtschaft, sondern verrät auch wenig Kenntnis über die Abwehranlagen der deutschen Nationalökonomie gegen ausländische Attacken.

Die schätzungsweise 700 Milliarden US-Dollar Privatgelder, die als liquide Mittel in Off-shore-Finanzzentren auf die weltweit günstigste Anlagemöglichkeit lauern, sind in viele konkurrierende Fonds aufgesplittert. Diese müssen in der Schlacht um eine Unternehmensübernahme einem hochzentralisierten Finanzkoloß wie etwa der Münchner Allianz-Versicherung unterliegen. Die Allianz nimmt jedes Jahr 100 Milliarden Mark an Prämien ein - mehr fresh money als jedes andere Finanzinstitut in Europa - und hat allein 25 Milliarden Mark als "stille Reserven" gebunkert, Kapital, das schnell und punktgenau eingesetzt werden kann. Die Allianz ist einer der Hauptkrediteure des Staates - wenn die Bundesregierung zur Deckung von Budget-Defiziten wieder Staatsanleihen bzw. Schatzbriefe anbietet, kauft die Versicherung die Papierschnipsel gegen echte Deutschmark auf (nach einer Untersuchung von 1996 stecken in solchen Papieren 174 Milliarden Mark, damals etwa die Hälfte des Allianz-Vermögens).

Der Anlagezwang der Allianz - mittlerweile müssen jeden Tag 150 Millionen Mark neu geparkt werden - und der Finanzhunger des defizitären Staates führen so zu einer immer stärkeren gegenseitigen Abhängigkeit. Die wird ergänzt durch die wechselseitige Durchdringung mit dem Industriekapital: Allein die Allianz war 1994 an 20 der deutschen Top-100-Konzernen beteiligt. Rund um Allianz (und Deutsche Bank) hat sich ein staatsmonopolistischer Komplex gebildet, der von ausländischen Konzernen kaum geknackt werden kann - ein unschätzbarer Vorteil im weltweiten Konkurrenzkampf. Man vergleiche damit die Spiegel-Märchen: "Mit einer Art Urgewalt entstehen staatenlose Konglomerate (...). Die Großgebilde bilden eine neue, internationale Identität (...). Die nationalen Regierungen spielen für die neuen Chefs kaum noch eine Rolle".

Abseits der fiktionalen Prosa, wenn's um die nackten Fakten geht, muß allerdings auch das Hamburger Magazin die Stärke der deutschen Unternehmen einräumen. "Im weltweiten Verdrängungskampf sind sie derzeit nicht Opfer, sondern Täter", heißt es in der Ausgabe vom 11. Mai 1998.