Partikel im Pool

Nach jahrelangem Schweigen treten die AKW-Betreiber mit Schuldeingeständnissen die Flucht nach vorn an

Die sonst so überheblichen Atomfirmen, die sich beim Beladen der Atomtransporte auf dem AKW-Gelände bislang selbst kontrollieren, senken die Häupter. "Wir haben da etwas verheimlicht", so ihre Message an Ministerin Angela Merkel. Selbst die verschwiegenen Vorstände in den Etagen des drittgrößten deutschen Atomunternehmens, der Bayernwerk AG, mußten inzwischen erklären, von sechs verstrahlten Transporten nach Frankreich in den vergangegen zwei Jahren gewußt zu haben. Hervorgetan hatten sich die Bayernwerker bislang mit den Forderungen, alle Atomtransporte nach Norddeutschland durchzusetzen, Castor-Demonstranten in Präventivhaft zu nehmen und die Lagerung der abgebrannten Brennelemente an den Reaktorstandorten rundweg abzulehnen. Auch die Atomriesen RWE und Veba sahen sich gezwungen, von "Strahlungen über dem Grenzwert gewußt" zu haben.

Für die AKW-Betreiber, die sich immer auf den hohen Sicherheitsstandard in Deutschland beriefen, ist der Skandal ein Imageproblem. Ihre Fachleute hätten die politische Dimension der nuklearen Verunreinigungen und die öffentliche Reaktion darauf weit unterschätzt, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung der Unternehmen vom Wochenende. Obwohl es ihnen sichtlich schwer fällt, räumen sie jetzt Fehler ein und geloben Besserung: In der Vergangenheit habe man trotz ständiger Fortschritte keine "vollständige Abhilfe" schaffen können. Nun aber würden technische Lösungen "nachhaltig und zuverlässig in Angriff genommen". Künftig solle das bei Sicherheitstechnik und Strahlenschutz in den Kraftwerken übliche Informations- und Meldesystem auch auf Castor-Transporte angewendet werden. Die Betreiber wollten dem Bundesumweltministerium Vorschläge für eine zentrale und transparente Regelung unterbreiten.

Reaktorsicherheitsministerin Angela Merkel ist für die AKW-Betreiber inzwischen zum letzten Pfand eines ungestörten Weiterbetriebs ihrer Anlagen geworden. Merkel treffe keine Schuld, beteuern die Betreiber einhellig, als fürchteten sie einen Rücktritt der Ministerin und einen "genaueren Blick" eines neuen Ministers in ihre Anlagen. Ob dieses Kalkül aufgeht, scheint inzwischen fraglich. Um ihre Unabhängigkeit zu beweisen, spuckt Merkel plötzlich erstaunliche Töne: Zwar halte sie die Kernenergie für verantwortbar, "allerdings nur, wenn solche Vorfälle wie jetzt sich nicht wiederholen". Die gesellschaftliche Diskussion über die Atomenergie müsse weitergeführt werden. Mit dienstlichen Erklärungen aller betroffenen Mitarbeiter ihres Ministeriums will sie außerdem unter Beweis stellen, daß vor dem 24. April tatsächlich nichts von den Grenzwertüberschreitungen bekannt war.

Auch sonst gibt man sich im Ministerium ahnungslos. Experten des Ministeriums untersuchten derzeit, wie es dazu kommt, daß sich Radioaktivität in den Wassertropfen sammelt, die nach der Beladung an den Castoren haften bleiben. Darauf habe man noch keine Antwort, erklärte Ministeriumssprecherin Gertrud Sahler.

Der Verkehrstechniker Elmar Schlich von der Universität Gießen sagt dagegen, das BMU habe seit Anfang der achtziger Jahre von dem Problem gewußt. Auch der Grund für die Verstrahlungen der Castoren und Transportwaggons sei seit langem bekannt, erläutert Gerhard Schmidt vom Ökoinstitut Darmstadt gegenüber Jungle World.

Die Atommüllbehälter werden unter Wasser in den Abklingbecken der Reaktoren beladen. Dabei bleibt verseuchtes Wasser an unzugänglichen Stellen der Castoren hängen. Dieses Wasser sei aus zwei Gründen verseucht, so Schmidt. Erstens, weil im Reaktorbetrieb die nahezu 1 000¡ Celsius heißen Brennelemente durch Haarrisse in den Brennelement-Ummantelungen Partikel von strahlendem Cäsium 137 an das umgebende Kühlwasser abgeben. Zweitens werde Kobalt 60, das für die Herstellung der Brennelement-Ummantelungen verwendet wird, im Reaktorbetreib radioaktiv. Durch den immensen Kühlwasserdurchfluß reibe das strahlende Kobalt 60 von den Ummantelungen ab und kontaminiere ebenfalls das Kühlwasser.

Werden schließlich die abgebrannten Brennelemente vom wassergefüllten Reaktorkern des AKW in den Zwischenlagerpool gehievt werden, wandern die Strahlenpartikel mit in dieses Becken. Zusätzlich kontaminieren die heißen Brennelemente das Poolwasser, in das schließlich die Castoren zur Beladung eingetaucht werden.

Jahrelang hätten die Betreiber Maßnahmen gegen die Kontaminierung einleiten können, die jetzt nach dem Bekanntwerden des Skandals wie selbstverständlich möglich sind: Doppelte Dekontamination der Castoren nach dem ersten "Ausschwitzen der Strahlenpartikel" und längere Verweilzeiten der Castoren in den AKW. Aus Kostengründen haben die Betreiber die aufwendigere Reinigung der Behälter nach dem Herausziehen aus dem Strahlenpool bislang unterlassen.

Unklar ist bislang, welche Auswirkungen der Atomskandal auf die europäische Zusammenarbeit der Nuklearindustrie haben wird. Denn nach ersten Auseinandersetzungen im Januar steht seit dem 18. Mai das Atom-Konsortium Nuclear Power International (NPI) vor dem Zerfall. Das Konsortium aus den französischen und deutschen Konzernen Framatome und Siemens will den "Europäischen Druckwasserreaktor" (EPR) entwickeln, der die Zukunft der europäischen Atomenergie bestimmen und als Exportschlager dienen soll. Siemens aber vereinbarte ausgerechnet mit dem Konzern British Nuclear Fuels (BNFL), dem nuklearen Intimfeind der Franzosen, daß die Briten beim neuen Reaktorprojekt EPR einsteigen können. Daraufhin stellten die Franzosen klar: Entweder ausschließlich Siemens und Framatome arbeiten zusammen, oder die Deutschen können sich mit dem britischen BNFL-Konzern zum Teufel scheren. Wie gerufen kam den Franzosen da der jahrelang fehlende Sicherheitsnachweis für einen britschen BNFL-Atombehälter NTL-11. Erst auf Druck des französischen Strahlenschutzinstituts (IPSN) und anschließender schriftlicher Mahnung der französischen Sicherheitsbehörde (DSIN) veranlaßte BNFL drei Behältertests, die allesamt fehlschlugen. Der britische Konzern geriet international unter Druck und mußte sämtliche Genehmigungen für Behälter des gefährlichen Typs NTL-11 zurückziehen. Über eine Verbindung dieser deutsch-französisch-britischen Kontroverse und den überraschenden Veröffentlichungen der DSIN kann derzeit nur spekuliert werden.