Totgesagte leben länger

Trotz aufwendiger Polizeimaßnahmen sind mittlerweile fast alle Verfahren gegen mutmaßliche radikal-Mitarbeiter eingestellt

Drei Jahre nach der Polizeiaktion gegen die radikal scheint alles wieder wie zuvor: Unter jedem guten Ladentisch ist seit etwa drei Wochen eine neue Ausgabe des kriminalisierten Blattes zu bekommen. "Was ihr jetzt in den Händen haltet, ist die erste Ausgabe eines neuen radikal-Zusammenhangs", heißt es im Intro der Nummer 155, in dem die Neuanfänger schreiben, warum sie die verdeckt organisierte Zeitung weiterführen wollen. Demnach soll die radikal in erster Linie als Diskussions- und Mitteilungsblatt der linksradikalen Szene dienen. Dennoch möchten sie auch bereit sein "für eine Rückeroberung (nicht im militärischen Sinne) des Alltags, der Straße und des Sozialen durch eine emanzipative linksradikale Politik über die Beschreibung und Dokumentation der festgetretenen Pfade im linksradikalen Schrebergarten hinaus neue Wege zu gehen". Zu finden sind in dem Heft ebenso ein Artikel zum Verhältnis der Linken zu Science Fiktion wie praktische Tips zum Bau eines Wanzensuchgeräts. Ein Beitrag über "Frauen in der PKK" greift eine Debatte über die kurdische Organisation auf, die bereits in vorhergehenden Ausgaben ausgetragen wurde.

Seit über 20 Jahren existiert die radikal inzwischen, und sie schreibt seither eine durchaus wechselhafte Geschichte. Gegründet 1976 als "Sozialistische Zeitung für Westberlin" wandelte sie sich im Laufe des Jahres 1980 zur "Zeitung für unkontrollierte Bewegungen" und damit zum faktischen Zentralorgan autonomer Gruppen. Nach einem ersten Schlag der Strafverfolger 1982 wurden zwei angebliche Mitarbeiter zu je zweieinhalb Jahren Haft verurteilt. Seit 1984 wird sie verdeckt organisiert und ist seither nur über eine Adresse im Ausland - derzeit WoZ, Postfach, CH-8031 Zürich - zu erreichen.

Vor genau drei Jahren, am 13. Juni 1995, ließ die Bundesanwaltschaft (BAW) über 50 Wohnungen und linke Projekte durchsuchen, um MitarbeiterInnen der radikal auf die Spur zu kommen. Der Vorwurf: Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung nach Paragraph 129. Vier Männer wurden für ein halbes Jahr in Untersuchungshaft genommen, vier weitere Personen konnten flüchten und kehrten erst im Laufe des Jahres 1996 aus dem Exil zurück. Interner Schriftverkehr, durch den die Struktur der Zeitung mehr oder weniger nachvollziehbar wurde, gelangte in die Hände der Polizei, weil viele Dokumente nicht rechtzeitig beseitigt und Disketten mit veralteten Verschlüsselungsprogrammen unzureichend gesichert worden waren. Dennoch erschienen im November 1995 sowie im Juni 1996 weitere Ausgaben.

Auch bei Folge-Durchsuchungen, die erst durch die Funde möglich wurden, fanden die Verfolgungsbehörden belastendes Material. Von letzten polizeilichen Heimsuchungen im Januar 1997 war neben zwei weiteren BerlinerInnen auch ein damaliger Redakteur der jungen Welt und jetziger Mitarbeiter der Jungle World betroffen. Nur ein halbes Jahr später wurden jedoch bereits zahlreiche Verfahren gegen Zahlung einer Geldbuße zwischen 1 000 und 6 000 Mark eingestellt. Die Oberlandesgerichte konnten in der Organisierung einer illegalen Zeitschrift einfach keinen Tatbestand erkennen, der den Vorwurf der "Bildung einer kriminellen Vereinigung" rechtfertigt.

Laut Auskunft der Pressesprecherin der BAW, Eva Schübel, sind inzwischen "fast alle Verfahren" eingestellt. "Vorläufig noch nicht eingestellt" seien jene gegen den Jungle World-Redakteur sowie den holländischen Internet-Provider "xs4all", der die jeweils neueste radikal-Ausgabe ins Internet eingespeist hatte. Als "ein großes ABM-Projekt in zweistelliger Millionenhöhe für die Sicherheitsorgane" bezeichnet der Berliner Anwalt Christoph Kliesing, der in den letzten 15 Jahren wiederholt radikal-Angeklagte verteidigte, die Aktionen der BAW. Selbst einzelne Staatsanwaltschaften der Länder seien inzwischen von dem Verfolgungswahn der BAW genervt.

Dennoch hat die BAW und das Bundeskriminalamt in großem Umfang Kenntnisse über Art und Weise einer verdeckten Organisierung gewinnen können. So scheint es gar nicht unbedingt Ziel und Zweck dieser Ermittlungen gewesen zu sein, zu Verurteilungen vor Gericht zu kommen. Schließlich legitimiert der Paragraph 129 weitreichende Fahndungsbefugnisse, beispielsweise das Abhören von Telefonen, die es auszunutzen gilt. Außerdem saßen vier der Beschuldigten ein halbes Jahr im Knast, was mit einer Verfahrenseinstellung ebensowenig gutgemacht werden konnte wie die aufwendige Arbeit gegen die Repression, mit der sich zahlreiche linke Gruppen unfreiwillig beschäftigten mußten.

Bereits im April 1998 war ein 16seitiges Aufarbeitungspapier erschienen, in dem "ein Zusammenhang der radikal" zu den eigenen Fehlern Stellung nahm. Dort wurde erstmals Klartext darüber geredet, was die Polizei bei den Durchsuchungen alles gefunden hatte. Da in diesem Text die weitere Zukunft der radikal sehr im Vagen gehalten wurde, kam das Erscheinen der neuen Ausgabe auch für viele in der Szene überraschend.