Verstockte Ohren

Noch immer verwirrt Arnold Schönberg die Hörsinne des Publikums: Wilhelm Sinkovicz' Monographie des ewigen Neutöners

Das name dropping ist bekanntlich eines der Merkmale fundierter Halbbildung. Das Aufzählen bekannter oder auch nur als bekannt gehandelter Namen aus dem "öffentlichen Leben" soll Kompetenz und Bescheidwissen demonstrieren, ohne daß man sich der Mühe unterziehen müßte, sich mit einer Sache eingehend zu beschäftigen. Derartige Halbbildung ist der Normalfall der allgemeinen Bildung unterm Spätkapitalismus, welche von den Repräsentanten des Kulturbetriebs vorexerziert wird. Man denke nur an die von Marcel Reich-Ranicki zu virtuoser Sinnfreiheit entwickelte Methode, Rezensionen spaltenlang mit der Aufzählung all dessen zu bestreiten, was er alles kennt - und in welcher Bildungsprotzerei sich wiederum das Publikum bestätigt sehen kann, das gerne nachplappert, was es ohnehin schon wußte.

Dieser Umstand erklärt, warum erstaunlich viele Leute, die noch nie ein Konzert mit neuer Musik besucht haben und, weil sie versehentlich den falschen Sender eingestellt haben und ein paar ungewöhnliche Klänge vernehmen, im Sturmschritt zum Radio eilen - warum also erstaunlich viele trotzdem z.B. über Stockhausen ganz genau Bescheid wissen: Daß es sich bei ihm um einen ganz harten "Neutöner" handele, einen, der das Publikum mit seinen in elektronischen Laboratorien erzeugten Klängen schier foltere, ein wandelndes Menetekel für Spinnerei, Verstiegenheit und Sektierertum.

Ganz ähnlich verhält es sich bei einem anderen Komponisten, den jeder kennt und von dem in Wahrheit kaum einer etwas weiß: Arnold Schönberg.

"Bewundert und viel gescholten, bleibt Schönberg ein Lieblingsthema musikhistorischer Dispute. Das allein scheint seine Bedeutung zu bezeugen. Seine Musik aber ist in den Konzertsälen nach wie vor rar, und die Interpreten beschränken sich zum größten Teil auf Stücke der frühesten Kompositionsphase, in denen der Meister die spätromantischen Zeitströmungen im Gefolge von Richard Wagners Klangrevolution mitvollzog. (...) Daß er selbst vor allem jene Kompositionen als 'Hauptwerke' betrachtete, die in der Methode der Komposition mit zwölf 'nur aufeinander bezogenen Tönen' geschrieben sind, ignoriert der Konzertbetrieb seit Jahrzehnten. (... ) Und es zeichnet sich keine Änderung dieser Situation ab (...), der späte Schönberg (ist) mehr oder weniger ein Lehrbuch-Meister geblieben. Man weiß um seine Bedeutung, macht jedoch um die Realisierung seiner Stücke geflissentlich einen Bogen."

Das Zitat ist dem einleitenden Kapitel der im Verlag Paul Zsolnay erschienenen Schönberg-Monographie des österreichischen Musikwissenschaftlers und Musikkritikers Wilhelm Sinkovicz entnommen. Diese ernüchternde Bestandsaufnahme, der man leider nur vorbehaltlos zustimmen kann, mag für Sinkovicz der Grund gewesen sein, im Jahr 1998, fast 50 Jahre nach Schönbergs Tod, eine Monographie über den Komponisten zu veröffentlichen, die, wie der Autor schreibt, "ein Buch für Freunde der Musik Arnold Schönbergs, aber auch für solche, die es erst werden wollen", sein soll.

Von Sinkovicz' Absicht, "wissenschaftliche Erkenntnisse möglichst allgemeinverständlich zu formulieren, um auch jenen Lesern den Zugang zu Schönberg zu ermöglichen, die keine musikalische Ausbildung genossen haben", muß man sagen, daß ihm deren Realisierung durchweg geglückt ist, und das will etwas heißen. Sinkovicz' Sprache ist lebendig und anschaulich, bisweilen süffisant. Sehr gern gelesen habe ich die Passage über das, wie der Autor es nennt, "Watschenkonzert" vom 31. 3. 1913, in dem u.a. Schönbergs 1. Kammersymphonie und zwei von Alban Bergs Altenberg-Liedern gespielt wurden, und das mit einer regelrechten Schlägerei endete.

Sinkovicz verzichtet auf die bei Künstlerbiographien immer noch übliche Masche, das Werk aus der Psychologie der Person abzuleiten; statt dessen versucht er, Schönbergs Schaffen im Kontext der ästhetischen Strömungen und gesellschaftlichen Entwicklungen seiner Zeit zu betrachten. In die chronologische Erzählung von Schönbergs Leben sind an zahlreichen Stellen im Schriftbild hervorgehobene Exkurse eingeschaltet, in denen Schönbergs Stücke unter kompositionstechnischen Aspekten genauer beschrieben und besprochen werden. Den Versuch, die musikimmanenten Problemstellungen ideologiekritisch als Niederschlag gesellschaftlicher Prozesse zu dechiffrieren, unternimmt der Autor nicht, auch wenn er solche Analysen hin und wieder (am ausführlichsten wohl in der Besprechung des Klavierkonzerts) unternimmt. Sinkovicz' Monographie ist damit ein Stück solider Musiksoziologie - das markiert ihre Leistung und zugleich ihre Grenze.

Der Begrenztheit der Methode korrespondiert zudem mit einem fragwürdiger Inhalt. Es sei an der Zeit, heißt es im Klappentext, "Schönberg sowohl aus der Umklammerung seiner Freunde als auch seiner Gegner zu lösen und ihn jenseits der Bruchlinie Spätromantik/Zwölftontechnik vorzustellen." Sinkovicz' Bemühung um einen "authentischen", um nicht zu sagen "entideologisierten" Schönberg, rekurriert dabei auf ein altes Klischee, mit dem man das Irritierende Schönbergs zu bannen versuchte: das Klischee, wonach seine Musik nichts als überhitzte, übersteigerte Spätromantik sei.

Sicherlich, es ist immer wieder notwendig, darauf hinzuweisen, daß Schönberg zu Recht darauf insistierte, daß auch und gerade seine dodekaphonisch konzipierten Werke Zwölfton-Kompositionen und keine Zwölfton-Kompositionen seien. Auf Kategorien wie Einfall und Ausdruck legte Schönberg zeit seines Lebens höchsten Wert. Es ist richtig, daß Schönberg in seinen frühen Werken - "Pelleas und Melisande", "Verklärte Nacht" - noch im Bann der emanzipierten Choromatik Wagners komponierte und daß er sich überhaupt keineswegs als musikalischen Revolutionär begriff, sondern als jemanden, der die Tradition Beethovens, Brahms' und Wagners fortführt.

Aber muß man diese Selbsteinschätzung Schönbergs denn auch noch für bare Münze nehmen? Haben denn die Reaktionäre aller Spielarten, zu Schönbergs Lebzeiten und danach, das wahrhaft Sprengende seiner Musik in ihrem verstockten Ressentiment nicht besser erahnt als die wohlmeinenden Apologeten, die jenes Moment neutralisieren, indem sie auch noch die radikale Musik ins Kulturerbe eingemeinden? Sinkovicz haut genau in diese Kerbe, wenn er meint: "Aber die Trennlinie zwischen retrospektiven Spätromantikern (etwa Richard Strauss, Franz Schmidt, Julius Bittner oder Pfitzner) und den anarchistischen Neutönern der Schönberg-Schule ist erst von einer späteren Generation radikal gezogen worden."

In die gleiche Richtung weist es, wenn Sinkovicz den Begriff der "Atonalität" (für Werke wie die 5 Orchesterstücke op.16) durch den der "freien Tonalität" ersetzt wissen will, denn, so seine erstaunlich dogmatische und selbstgewisse Begründung, "selbstverständlich (sic!) kann das Ohr des Hörers seine Gewohnheit, Musik in hierarchischen Zusammenhängen zu begreifen, in jedem Akkord also einen Grundton zu erkennen, nicht ablegen." Mehr als fragwürdig auch, wenn Sinkovicz die "Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen", derart ein recht abgeschmacktes Vorurteil bedienend, als eine Art Tonalitätsersatz vorstellt, mit der wieder "Ordnung" in den "chaotisch ungeordneten, freien musikalischen Raum" gebracht werden sollte und die auch wieder die Konzeption zeitlich ausgedehnter musikalischer Gebilde möglich geworden wäre (und was ist mit dem letzten Stück aus Schönbergs op.16? Den Orchesterstücken von Berg?).

Es sind derartige Schlampigkeiten und Unwahrheiten, die es machen, daß man mit Sinkovicz' Monographie doch nicht ganz glücklich wird, obwohl das Buch eine Menge neuen Materials ausbreitet (so konnte Sinkovicz auf die Materialsammlung zurückgreifen, die Nuria Nono-Schönberg 1992 zu Leben und Werk ihres Vaters herausgegeben hat). Das Buch kann das Standardwerk von Hans Heinz Stuckenschmidt jedenfalls nicht ersetzen, aber als Ergänzung kann man es mit einigen Vorbehalten empfehlen.

Wilhelm Sinkovicz: Mehr als zwölf Töne. Arnold Schönberg. Paul Zsolnay Verlag, Wien 1998, 329 S. , DM 39,80