Holbrooke stoppt Rühe

Nato cancelt Planungen für einen Militärschlag gegen Jugoslawien.

Für Volker Rühe brachte der 22. Juli ein Fiasko: Nachdem er in den letzten Wochen immer wieder einen Militärschlag gegen Serbien gefordert hatte, beschloß der Nato-Rat an diesem Tag, nichts zu beschließen - und verabschiedete sich in die Sommerpause.

Als Begründung erfuhr die Leipziger Volkszeitung im Nato-Hauptquartier, was ansonsten verschwiegen wird: "Es ist nicht populär, das zu sagen, aber die serbische Minderheit im Kosovo ist jetzt stärker gefährdet, Opfer eines Völkermords zu werden als die albanische Bevölkerung." Und ein US-Sprecher erklärte gegenüber der International Herald Tribune: "Die letzten zwei bis drei Wochen konnten wir eine entscheidende Abnahme der offensiven Operationen seitens der Serben registrieren."

Der Tagung vom 22. Juli lagen vier Szenarien für eine Intervention des Bündnisses in den Kosovo-Konflikt zugrunde, die nun in der Schublade bleiben: drei offensive anti-serbische Aktionen, nämlich ein Einmarsch in den Kosovo mit dem Ziel der militärischen Befriedung der Provinz (erforderlich: 70 000 bis 100 000 Soldaten), ein Einmarsch mit dem Ziel der Trennung der Bürgerkriegsparteien durch eine Art Pufferzone (erforderlich: 20 000 Soldaten) sowie Luftangriffe gegen serbische Ziele. Das vierte Szenario zeigt, wie uneins das westliche Militärbündnis in seinen Zielen ist, denn es kommt eher den Erwartungen Belgrads entgegen: Die intendierte Abriegelung der Grenzen zwischen dem Kosovo und den Nachbarstaaten Mazedonien und Albanien (erforderlich: 7 000 Soldaten) würde Waffenschmuggel und Logistik der Separatisten empfindlich treffen. Noch wichtiger als der Nicht-Beschluß ist aber, daß der Nato-Rat klar gemacht hat, daß er sich auch zu einem späteren Zeitpunkt nur unter äußerst restriktiven Bedingungen zu einer Intervention durchringen wird. Demnach kommen Nato-Landstreitkräfte "ausschließlich" zur Absicherung einer fertig ausgehandelten und von beiden Konfliktparteien akzeptierten politischen Lösung in Frage. "Diese politische Lösung muß in Vertragsform vorliegen", mußte Rühe nach der Sitzung zugeben. Im Klartext: Die Nato wird eine Intervention weder auf eigene Faust unternehmen, noch wird ihr eine Absegnung durch den UN-Sicherheitsrat genügen (die Position von Außenminister Kinkel), sondern sie macht die Unterschrift von Milosevic zur Voraussetzung.

Wie jäh mit diesen Festlegungen Rühe innerhalb der Nato in die Isolation geraten ist, belegt ein Vergleich mit der Kriegshysterie, die das westliche Bündnis vor gerade sechs Wochen erfaßt hatte. Auf ihrem Treffen am 11. Juni hatten die Nato-Verteidigungsminister offengelassen, ob sie sich bei einem Militärschlag gegen Jugoslawien durch ein Veto von Rußland und China in der Uno stoppen lassen würden. Der britische Verteidigungsminister George Robertson hatte gar getönt, man sei von einer militärischen Intervention "eher Tage als Wochen" entfernt. Tatsächlich begann die Kriegsmaschine anzulaufen: Am 15. Juni fand das Manöver "Determined Falcon" ("Entschlossener Falke") statt, einen Tag lang donnerten 84 Nato-Kampfflugzeuge im Tiefflug über Albanien und Mazedonien.

Nachdem Milosevic am nächsten Tag bei seinem Besuch in Moskau nicht die erwünschten Konzessionen gemacht hatte, legte Rühe am 17. Juni jede Zurückhaltung ab und kündigte an, "noch diese Woche" würde das Bündnis seine Interventionspläne bekanntgeben, die "das ganze Spektrum militärischer Operationen verfügbar" machten. "Jetzt werde es ernst, (...) wenn die albanische Bevölkerung weiter von den serbischen Streitkräften verfolgt werde", dies sei eine "letzte Warnung" an Milosevic, zitiert ihn die FAZ.

Rühes Säbelrasseln mag in Washington Erinnerungen an 1991 geweckt haben, als ähnliche Töne aus Bonn die einseitige Anerkennung der Sezessionen Kroatiens und Sloweniens eingeleitet hatten. Dagegen mobilisierte die US-Regierung ihre schärfste Waffe auf dem Balkan, den Architekten des Dayton-Vertrages, Richard Holbrooke. Am 26. Juni begann er mit Panzerweste und Begleitschutz seine Tour durch das Kosovo und traf dabei auch mit UCK-Rebellen zusammen, deren Auftreten ihn ziemlich beeindruckt haben muß.

Jedenfalls leitete Holbrooke, kaum vom Kriegsschauplatz zurückgekehrt, zwei Kurskorrekturen in der US-Außenpolitik ein: Zum einen wurde ab Anfang Juli darauf verzichtet, von Belgrad den einseitigen Abzug von Militär und Polizeisondereinheiten aus dem Kosovo zu verlangen - damit wurde jenes Essential aufgegeben, mit dem Rühe bei seiner Brandrede am 17. Juni die Notwendigkeit eines Militärschlages begründet hatte. Statt dessen fordern die USA seither einen sofortigen Waffenstillstand von beiden Seiten - eine Position, die sie auch innerhalb der Balkan-Kontaktgruppe auf dem Treffen am 8. Juli durchsetzten.

Zum zweiten hatte Holbrooke auf seiner Reise erfahren, "wie wichtig Gelder aus Deutschland, Dänemark und der Schweiz für die UCK" seien. Anstatt das Problem diplomatisch zu verhandeln, griff Holbrooke zu einem ungewöhnlichen Schritt: Er kritisierte das Laissez-faire der Bundesregierung öffentlich in einem Zeitungsinterview.

Tatsächlich hatte die Bundesregierung das Fund-Raising für den Kosovo-Underground in den vergangenen Jahren zumindest toleriert: Für den von Rugova und dem Ministerpräsident der Exilregierung, Bujar Bukoshi, verwalteten "Fonds der Republik Kosovo" waren seit 1992 jährlich mehr als zehn Millionen Mark gesammelt worden. Kosovo-Albaner wurden aufgefordert, drei Prozent ihres Einkommens auf dieses Konto zu spenden. Während Bukoshi die Verwendung dieser Gelder für die UCK abstreitet (siehe Interview), wird ein weiteres bundesdeutsches Konto ganz offen für diesen Zweck geführt. Unter dem Stichwort "Heimat bittet um Hilfe" hat die Demokratische Vereinigung der Albaner in Deutschland (DVAD) vor fünf Jahren eine Bankverbindung eingerichtet, allein im April 1998 sollen darauf sieben Millionen Mark eingegangen sein. DVAD-Chef Kelmendi gibt zu, daß "ein großer Teil" davon für die UCK bestimmt sei, schließlich seien deren Waffenkäufe auch eine Form "humanitärer Hilfe". Pikant: Kelmendi hat der Bundesregierung ausdrücklich dafür gedankt, "daß sie seine Arbeit bisher nicht behindert habe" (Zitate nach FAZ, 15. Juli). Am 8. Juli hat die Kontaktgruppe Holbrookes Anregung aufgegriffen und beschlossen, daß diese Finanzierung unterbunden werden müsse. Tags darauf verkündete Kinkel bereits weniger anrüchige Formen der Unterstützung: Er sicherte Albanien 1,2 Millionen Mark "für die Unterbringung von Flüchtlingen" und 100 000 Mark "für weitere humanitäre Hilfe" zu.

Erneut hat Holbrooke seine Verbindungen zu Milosevic, die schon den Dayton-Vertrag ermöglicht haben, zu einer Entspannung der Lage genutzt. Am 5. Juli - Rühe forderte das Nato-Eingreifen ohne UN-Beschluß - hielt er symbolträchtig eine gemeinsame Pressekonferenz ausgerechnet mit einem der schärfsten Kritiker eines solchen Vorgehens ab, nämlich mit dem stellvertretenden russischen Außenminister Afanasjewski. Gemeinsam verkündeten beide, was Holbrooke beim jugoslawischen Präsidenten erreicht hatte. "Der russische, der amerikanische, der britische und andere Botschafter werden mit symbolischen Patrouillen im Kosovo beginnen", sagte Holbrooke. Nachdem Milosevic die Krisenprovinz schon zuvor für das Rote Kreuz und eine OSZE-Delegation geöffnet hatte, war damit endlich eine internationale Überwachung jenseits des Meinungsjournalismus möglich geworden.

Einen ersten Lagebericht haben die diplomatischen Beobachter der Alliierten am 22. Juli veröffentlicht. "Darin wird an erster Stelle auf den Zustrom von UCK-Kämpfern von Albanien und auf die Kämpfe in und um Rahovac eingegangen. Die Diplomaten äußerten sich besorgt über die Entführungen und die kritische Versorgungslage in den umkämpften Gebieten."

Weil diese Meldung nicht den gewünschten Eindruck vermittelte, hat sie die FAZ mit Informationen "nach kosovo-albanischen Quellen" angereichert. Im Eingangsabschnitt des Artikels heißt es nun, im Gegensatz zum zitierten Diplomaten-Bericht, es "häufen sich Berichte über Massaker der serbischen Polizei an kosovo-albanischen Zivilisten". So geht deutscher Journalismus.