Soziale Müllentsorgung in Deutschland

Wer gehört zu uns?

In Bayern gehen die Uhren anders. Man ist versucht, dieser lokalpatriotischen Selbststilisierung zu glauben: Ein Fall Mehmet wäre in anderen Bundesländern nicht möglich. Schließlich ging ihm auch eine lokalpolitische Machtprobe voraus: Ein stramm rechtskonserverativer Verwaltungsmann, der gegen die seiner Meinung nach zu liberale Haltung der rot-grünen Mehrheit im Münchner Stadtrat vorgehen möchte und eine umstrittene Ausweisungsverfügung erläßt, betreibt mit einer seiner letzten Amtshandlungen symbolische Politik mit Menschenopfern

Aber es hätte auch in Hamburg passieren können oder in Frankfurt - rechtlich verstößt der jetzt ergangene Beschluß zumindest nicht offensichtlich gegen das Gesetz. Was aber steckt dahinter? Was wird hier exekutiert? Der Fall Mehmet wirft ein grelles Licht auf den Umgang mit sozialen Problemen in unserer Gesellschaft. Es wird zusehends Müllentsorgung betrieben. Die deutschen Gefängnisse sind überfüllt mit social junk: Asylbewerber ohne Aufenthaltsgenehmigung, Drogenabhängige, Zahlungsunfähige, Obdachlose sammeln sich hinter Gittern an. Dort werden sie verwahrt bis zur Abschiebung oder bis zur - meist nur vorübergehenden - Entlassung. Man möchte sich von dem Übel befreien. Zero Tolerance auch in den Fußgängerzonen und Bahnhofshallen; Zwischen- und Endlager für die Unangepaßten; die Opfer des desorganisierten Kapitalismus nehmen den Kehricht auf. Der Fall Mehmet steht für die Reinform dieses Entsorgungsdenkens: Man entledigt sich mit der Familie gleichsam auch noch der kontaminierten Verpackung des Problems. Versagt hat nicht die Gesellschaft, versagt hat, so will es der politische Alltagsverstand, die Familie. Mehmet ist eine Provokation. Er hat das Angebot seines "Gastlandes" abgelehnt, sich durch die sozialpädagogische Wiederaufbereitungsanlage für Problemjugendliche bessern zu lassen. Damit hat er etwas verwirkt, das ihm großzügig gewährt wurde: das Aufenthaltsrecht. An Mehmet wird exekutiert, was die Gesellschaft gerne auch in anderen Bereichen, z.B. an Sexualtätern und Kinderpornohändlern vollziehen würde: die endgültige Unschädlichmachung. Hier wird ein zwanghaftes Reinigungsritual vollzogen

Hier wird demonstriert, daß es möglich ist, den Binnenraum, unser Land, von Gefahr und Schmutz zu befreien. Das geht nicht mehr im virtuellen Raum des Cyberspace, das geht nicht mehr in der Sozial- und Wirtschaftspolitik, die mehr von globalen Entwicklungen als von nationaler Politik abhängt, aber es geht - zumindest symbolisch - im Bereich des Verbrechens. Mit der Ausweisung von Mehmet und seiner Familie beantwortet sich unsere Gesellschaft die Fragen: Wer sind wir, wer gehört zu uns und was sollen wir tun. Es ist der ebenso verzweifelte wie verlogene Versuch, eine Ordnung zu retten, die längst versunken ist, die Ordnung des überschaubaren und souveränen Nationalstaats, der ethnisch homogenen Gesellschaft und der klaren ideologischen Fronten, wo Arbeitsplätze und Familien Garanten lebenslanger Sicherheit waren und sich die Exotik auf die Pizzeria um die Ecke beschränkte

Mehmet gibt auch die Ikone der Gegenposition ab, die auf Prävention und Sozialarbeit setzt. Hätte man früher reagiert, hätte man ihm bessere Chancen eröffnet, dann wäre es nicht so weit gekommen. So etwa argumentieren diejenigen, die sich gegen die Ausweisung wenden. Doch auch diese Politik geht an der Realität vorbei. Sie ist getragen von der falschen Hoffnung, man könne durch genügend Sozialpolitik eine Gesellschaft sanieren, die in ihren Grundfesten brüchig geworden ist. Wir sollten uns nichts vormachen

Beschützende Werkstätten für Problemjugendliche werden uns nicht vor den Folgen des sozialen Umbruchs retten. Wir projizieren unsere Ängste auf Sündenböcke und - je nach Grundeinstellung - fordern wir deren Notschlachtung oder therapeutische Maßnahmen in der irrigen Hoffnung, damit die Probleme zu lösen. Wir werden in Zukunft mit dem Problem der Unsicherheit, mit zunehmenden sozialen Spannungen, steigenden Arbeitslosenzahlen, ethnisierten Konflikten vor der Haustüre und anwachsenden Flüchtlingsströmen leben müssen. Die öffentlichen Kassen sind leer und die Politik wird uns mit Zumutungen konfrontieren, die wir so noch nicht erfahren haben. Da hilft es wenig, nach mehr Härte oder sozialtherapeutischer Nachbearbeitung sozialer Konflikte zu rufen.