Die Karriere einer Nachricht

Die Nase des Reporters

"Massengräber jetzt auch im Kosovo entdeckt. taz-Reporter stößt bei Orahovac auf Hunderte Leichen". Das war die Meldung, die es am vergangen Dienstagabend in die Nachrichtensendungen schaffte. Am nächsten Tag waren in der taz unter dieser Überschrift die Details zu lesen: "In diesen Massengräbern, nur rund 700 Meter von der Stadtgrenze Orahovac' entfernt, sind, so sagen Augenzeugen, bisher 567 Menschen verscharrt worden." Es klingt, als habe da einer genau Buch geführt. "Unter den 567 Getöteten sollen sich auch die Leichen von 430 Kindern befinden." Noch mehr Informationen schien die Wiener Presse zu haben. Bei Orahovac "wurden mindestens zwei Massengräber gefunden. Eines davon ist bereits geöffnet worden: Darin fanden schockierte Totengräber die Leichen von mehr als 500 Menschen, 400 davon Kinder. Im zweiten sollen sich an die tausend Leichen befinden." Der Autor der beiden am 5. August erschienenen Artikel: Erich Rathfelder. Massengräber, ermordete Kinder, Massaker an der Zivilbevölkerung, Leichengeruch - der Stoff, aus dem Storys sind, die die Welt erregen. So richtig allerdings wollte Rathfelder kaum jemand beim Wort nehmen. Zu offensichtlich, daß seine Behauptungen sich schwer belegen ließen. Auch Rathfelder mußte am nächsten Tag in der taz vorsichtiger formulieren: Keine Rede mehr von bereits geöffneten Massengräbern. Rathfelder schreibt, am Rande einer Mülldeponie habe er 33 Holzpfosten mit Markierungen gesehen. Und weiter: "Kaum dreißig Meter entfernt ist eine zweite etwa gleich große Stelle zu sehen, die ebenfalls von Bulldozern mit Erdreich überdeckt worden ist. Auch hier empfängt uns derselbe unerträgliche Geruch." Rathfelder spricht es nicht aus, aber der Zusammenhang legt es nahe: Die Nase des Reporters hat ihn tags zuvor von offenen Massengräbern schreiben lassen. Auch die Quelle für seine Zahlenangaben enthüllt er jetzt: Aus den Augenzeugen des Vortagesartikels ist ein Zeuge geworden. Dieser soll mitgeholfen haben, die Leichen auf sieben Pferdekarren zu laden. "Insgesamt, so erzählt unser Informant in Orahovac weiter, seien bis zum Montag dieser Woche 567 Leichen abtransportiert worden." Rathfelders "Informant in Orahovac" will die Leichen selbst gezählt haben. Die Mehrzahl seien Kinder gewesen, "430, um genau zu sein".

In dem Artikel beruft sich Rathfelder außerdem auf R. Jeffrey Smith, einen Journalisten der Washington Post. Dieser habe "frisch zugeschüttete Massengräber" gesehen. Smith selbst behauptet in seinem Artikel nicht, er habe frisch zugeschüttete Massengräber gesehen. Statt dessen beschreibt er die 33 Holzpflöcke, die auch Rathfelder gesehen hat und von denen die serbische Polizei sagt, sie habe hier 37 Opfer der Kämpfe begraben. Darüber hinaus gebe es Gerüchte, so Smith weiter, daß über 100 Tote von den Serben heimlich begraben worden seien. "But there is no evidence of mass graves containing such a large number of bodies." Mit der Ankündigung: "Weitere Recherchen erhärten seinen (Rathfelders; F.M.) Bericht", zitiert die Presse Smith' Artikel, der am gleichen Tag wie Rathfelders Auslassungen erschienen war. Es ist die einzige "weitere Recherche", die Rathfelders Darstellung erhärten soll. Den Satz von dem fehlenden Beweis freilich läßt die österreichische Zeitung weg und übersetzt falsch: "Zwei Einwohner haben getrennt voneinander verschiedenen Journalisten erzählt, sie wüßten aus erster Hand, daß mehr als hundert Leichen nach den Kämpfen aus der Stadt entfernt und geheim verbrannt worden seien." Im Eifer des Gefechts war aus "buried" (begraben) "burned" (verbrannt) geworden. Aber wer wird so kleinlich sein, schließlich hatte die Presse nur drei Tage Zeit, den Artikel zu übersetzen, und es geht darum, Material gegen den "Hitler von 1998" zu sammeln, wie der Kommentator der Presse Slobodan Milosevic nennt.

Weniger siegesgewiß scheint die taz. Den eigenen Kriegsberichterstatter Rathfelder bloßstellen will man dennoch nicht. Und so versucht sich taz-Chefredakteur Michael Rediske in seinem Kommentar vom vergangenen Sonnabend in Schadensbegrenzung. Berichtererstatter, die sich vor Ort begeben, hätten "nur wenige Möglichkeiten, die Wahrheit herauszufinden". Die Wahrheit könne nur eine Exhumierung ans Licht bringen. "Entweder man findet tatsächlich eine große Zahl von Kinder- und Frauenleichen, oder es liegen dort ausschließlich Opfer von Kampfhandlungen. Ein Drittes gibt es nicht." So einfach ist das.