Medien als Brandstifter

Im Balkan-Krieg trägt die Desinformation zur Gewalteskalation bei.

Krisenkommunikation in den westlichen Medien führt regelmäßig zu Medienkrisen, die ausgelöst werden durch Diskussionen über die Verantwortung von Journalisten, über Defizite in der Berichterstattung, über Glaubwürdigkeit von Informationen und vieles mehr. Nach dem Mediendesaster des Golf-Kriegs gab es in den Redaktionsstuben der Weltpresse eine kurze Welle des Entsetzens über das eigene Versagen und die Ohnmacht. Dann ging man zur Tagesordnung über. Als der Krieg auf dem Balkan nur wenige Monate nach Beendigung des "Wüstensturms" ausbrach, hatte man die Auseinandersetzung um das Versagen der Medien praktisch schon abgehakt. Der neue Konflikt schien auf den ersten Blick auch nicht vergleichbar mit dem Pentagon-gesteuerten Videokrieg: Keine Großmacht verhinderte den Zugang zum Kriegsgebiet, kein Militär zensierte Informationen; es gab echte Kriegstote zum Abfilmen und Tausende von Augenzeugen, die über Schreckliches berichteten. Wie zum Ausgleich für die journalistischen Entbehrungen am Golf konnten die Berichterstatter jetzt über "Stoff" in Hülle und Fülle verfügen.

Fast zweieinhalb Jahre nach Beginn des militärischen Konflikts im ehemaligen Jugoslawien veröffentlichte die wohl weltweit renommierteste Zeitschrift für internationale Politik, Foreign Policy, in ihrer Ausgabe Winter 1993/94 einen Artikel des Journalisten Peter Brock unter dem Titel "Dateline Yugoslavia: The Partisan Press". Es war der Wunsch der Redaktion gewesen, die Rolle der Medien im Balkankrieg kritisch zu hinterfragen, und Peter Brock hatte nicht nur Erfahrungen vor Ort gesammelt, sondern sich dabei auch den Ruf eines durchaus zuverlässigen Journalisten erworben.

Brocks These klang wie das mehrfache Echo vergangener Diskussionen über Kriegsberichterstattung: Im Balkan-Konflikt habe der westliche Journalismus versagt. Konkreter: Verdrehung von Tatsachen, mangelnde Sorgfalt und einseitige Kommentierung seien an der Tagesordnung, Fahrlässigkeit und Meutenjournalismus das besondere Kennzeichen der Balkan-Berichterstattung. Dabei verband sich, so Brock, in einem beispiellosen Ansturm der Bilder und Berichte moderne Medientechnik mit anwaltschaftlichem Journalismus. Die Medien seien zu einer Bewegung, zu Mitkriegsführenden geworden: "Die Nachrichten kamen im vollen Kampfanzug der knalligen Schlagzeilen, der seitenweise ausgebreiteten, bluttriefenden Fotos und grausigen Videofilme daher. Dahinter steckte die klare Absicht, Regierungen zu militärischem Eingreifen zu zwingen. Die Wirkung war unwiderstehlich, aber war das Bild vollständig?" Brock versäumt es nicht, seine Perspektive ins rechte Licht zu rücken: "Die Beweise sind (...) erdrückend, daß die militärischen Kräfte der bosnischen Serben schweres Unrecht begangen haben und begehen." Seine Kritik jedoch betrifft die mangelnde Verantwortung der Kollegen, die den "professionellen Auftrag, alle Seiten einer Geschichte zu erfassen und ihnen nachzugehen", nicht erfüllt hätten. Sicher hätten sich die objektiven Umstände im Kriegsgebiet dafür nicht immer als günstig erwiesen, dennoch sei diese Nachlässigkeit vermeidbar gewesen und man hätte ein realistisches Bild von den Geschehnissen im ehemaligen Jugoslawien bekommen. Brock belegt seine Behauptungen mit zahlreichen Beispielen.

Als Brocks Artikel in den USA erschien, setzte ein Sturm der Entrüstung ein, jedoch Entrüstung nicht über die Medien, sondern über den Autor. Am 20. Januar 1994 veröffentlichte die Züricher Weltwoche den Text in Europa. Die liberale Zeitung und der verantwortliche Auslandsredakteur Hanspeter Born erlebten ein kleines Erdbeben.

Es hagelte Telefonanrufe und Leserbriefe, "in denen uns vorgeworfen wurde, wir leugneten die serbische Aggression im Bosnienkrieg, wir verharmlosten Kriegsverbrechen wie die 'ethnischen Säuberungen' und die Vergewaltigungen, wir stellten Täter und Opfer auf dieselbe Ebene und verhöhnten somit die Opfer. (...) Der Reaktionär Born, hieß es, sei einem Artikel aufgesessen, der in einer dubiosen, ultrarechten Publikation erschienen sei - was angesichts der progressiven politischen Ausrichtung von Foreign Policy recht amüsant ist. Bald stimmte fast die gesamte Schweizer Presse in das Geheul gegen den Brock-Artikel ein. 16 Osteuropa-Korrespondenten schweizerischer Medienunternehmen schrieben einen betupften Offenen Brief, in dem sie sich gegen den (gar nicht gegen sie erhobenen) Vorwurf der Einseitigkeit verwahrten." Das war genau der Mechanismus, der eine kritische öffentliche Debatte über die Rolle der Medien im Balkankrieg unmöglich machte und schließlich den von Peter Brock eingeleiteten Reflexionsprozeß bald zum Erliegen brachte: Wer die Frage nach der Wahrheit über diesen Krieg stellte, wurde als Lügner denunziert und zum Serbenfreund abgestempelt, was angesichts der Völkermordkampagne dem Vorwurf einer zumindest geistigen Mittäterschaft gleichkam und kritische Journalisten ins moralische Abseits rückte. Die Angst vor der durchaus realen Möglichkeit, einer Komplizenschaft mit dem Faschismus beschuldigt zu werden, hatte sich so tief eingegraben, daß bei Redakteuren und Journalisten ein Mechanismus der Selbstzensur in Gang gesetzt wurde. Davon konnte sich die Autorin selbst in zahlreichen Gesprächen mit verantwortlichen Auslandsredakteuren deutscher Medien wie stern, Die Zeit, Die Wochenpost, Die Woche, Süddeutsche Zeitung und anderen überzeugen.

Die öffentlichen Stellungnahmen der Redakteure unterschieden sich erheblich von ihren privat geäußerten Meinungen. Einige von ihnen etwa hielten die Massenvergewaltigungen für eine große Propagandalüge, wovon sich in ihren Artikeln jedoch nie ein Wort finden ließ. Andere waren überzeugt davon, daß es unter den Serben viele Opfer gab, hielten es aber nicht für angebracht, darüber zu schreiben. Alle aber waren der Meinung, es existiere ein simples, schwarzweiß gemaltes Bild von Gut und Böse, das den wahren Gegebenheiten nicht entspreche, dabei offenkundig vergessend, daß sie oder ihre Medien es waren, die dieses Bild mitproduzierten - die einen mehr, die anderen weniger.

Die Selbstzensur unter dem Druck einer schon geformten öffentlichen Meinung jedenfalls ist eine Konstante der Berichterstattung über die Kriege in Bosnien und Kroatien. Als der Fernsehjournalist Martin Lettmayer im November 1992 die Berichte über Massenvergewaltigungslager, verfaßt von Alexandra Stiglmayer, die praktisch alleine den deutschsprachigen Medienmarkt zu diesem Thema bediente, nachrecherchierte, kam er zu dem Ergebnis: "Da ist alles gelogen." (Weltwoche, Nr. 10/94) Doch unterbringen konnte Lettmayer seine gefilmten Erkenntnisse nicht. Der Kommentar eines ZDF-Auslandsredakteurs zu Lettmayers Angebot: "Die Berichte sind interessant, und man sollte sie bringen. Aber wenn ich das tue und gegen den Strich bürste, kann ich meinen Job an den Nagel hängen." Auch Hanspeter Born stand nach der Veröffentlichung des Brock-Artikels kurz vor dem Rausschmiß. Angesichts der massiven Attacken und diffamierenden Vorwürfe sah sich schließlich selbst die Redaktion von Foreign Policy veranlaßt, Brocks Behauptungen zu überprüfen, denn immerhin stand ihr Ruf als seriöse Publikation auf dem Spiel. Die umfangreiche Dokumentation, die Foreign Policy zusammenstellte, bestätigte Brocks Aussagen alle, bis auf eine: Er hatte ein Titelbild von Time und Newsweek verwechselt, was an der Aussage aber nichts änderte. Denn das - dem falschen Magazin zugeschriebene Coverfoto - zeigte ein "Konzentrationslager" mit Stacheldraht und einem ausgemergelten "Muslim" im Vordergrund, der in Wirklichkeit ein Serbe war.

Unter diesen erschwerten Umständen und Vorzeichen jedoch konnte keine ernsthafte öffentliche Diskussion über die Kriegsberichterstattung vom Balkan entstehen und erst recht keine Korrektur ihrer Einfärbung stattfinden. Ausschlaggebend dafür ist auch noch eine ungeschriebene Gesetzmäßigkeit der Kriegsberichterstattung: Die Wahrheit über Kriege erfährt man erst, wenn sie vorbei sind, nämlich dann, wenn die Propaganda-Apparate aufgehört haben zu arbeiten und die politischen und militärischen Ziele erreicht sind. Es scheint, als ob Medien und Öffentlichkeit stillschweigend akzeptieren, was der englische Schriftsteller Arthur Ponsoby vor mehr als einem halben Jahrhundert folgendermaßen formuliert hat: "In Kriegszeiten ist das Versäumnis zu lügen eine Nachlässigkeit, das Bezweifeln der Lüge ein Vergehen und die Erklärung der Wahrheit ein Verbrechen." In Wirklichkeit aber kann die Wahrheit Verbrechen verhindern. In kaum einem anderen Krieg hat sich die einseitige Parteinahme und dadurch bedingte Desinformation derart konflikteskalierend ausgewirkt wie im Balkan-Krieg. Im Balkan-Konflikt haben sich Politiker und Medien im Dienste politischer Ziele gegenseitig benutzt und wechselseitig zum Opfer gemacht und damit die Spirale des Hasses und der Gewalt unter den verfeindeten jugoslawischen Völkern beständig weitergedreht.

Der leicht gekürzte Text Mira Behams ist ihrem 1996 bei dtv erschienenen Buch "Kriegstrommeln. Medien, Krieg und Politik" entnommen.