Bahman Nirumand

»Der zahnlose Löwe brüllt«

Der 1936 in Teheran geborene Bahman Nirumand hat in München, Tübingen und Berlin Germanistik, Philosophie und Iranistik studiert. Unter dem Schah-Regime wurde er politisch verfolgt und mußte in den sechziger Jahren den Iran verlassen. Sein 1967 erschienenes Buch "Persien, Modell eines Entwicklungslandes oder Die Diktatur der Freien Welt" hatte großen Einfluß auf den Internationalismus der Studentenbewegung. 1979, kurz vor dem Sturz des Schah, kehrte er in den Iran zurück. Seine politischen Aktivitäten gegen die Islamisten zwangen ihn jedoch erneut ins Exil. Nirumand lebt heute als freier Journalist und Schriftsteller in Wiesbaden. Er veröffentlichte u. a. eine Khomeini-Biographie, "Mit Gott für die Macht", sowie "Feuer unterm Pfauenthron. Verbotene Geschichten aus dem persischen Widerstand", "Iran - hinter den Gittern verdorren Blumen" und "Sturm im Golf. Die Irak-Krise und das Pulverfaß Nahost".

Seit der Niederlage der konservativ-islamistischen Kräfte bei den iranischen Präsidentschaftswahlen im Mai 1997 hat sich der Machtkampf zwischen religiösen Dogmatikern und Gemäßigten in der politischen Elite des Iran zugespitzt. Im Juli wurde mit dem Teheraner Bürgermeister Karbatschi ein wichtiger Gefolgsmann von Präsident Khatami wegen Korruption zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Auch die Khatami-treue Zeitung Dschameh wurde von der iranischen Justiz verboten. Wie neu ist der gegenwärtige Konflikt?

Der innenpolitische Machtkampf ist das Ergebnis jahrelanger Auseinandersetzungen, er hat sich mit der Wahl Khatamis allerdings verschärft. Dennoch wird längst nicht alles so heiß gegessen wie gekocht. Karbatschi hat inzwischen bei einem Teheraner Verwaltungsgericht Berufung eingelegt, und es ist wahrscheinlich, daß diese neue Instanz ihn freisprechen wird. Auch die Dschameh wurde zwar verboten, dann jedoch zweimal unter anderem Namen publiziert. Jetzt wurde das Verbot aufgehoben, die Zeitung erscheint unter dem Namen Tus wieder täglich.

Ist der Machtkampf Khatami gegen Khamenei Ausdruck einer innenpolitischen Patt-Situation, oder zeigen die Attacken der religiösen Ultras gegen Khatamis liberal-islamistisches Regierungslager nicht eher eine politische Ohnmacht des Präsidenten und einen Siegeszug der Islamisten unter Khamenei?

Die momentane Entwicklung kommt keineswegs einer politischen Ohnmacht des Präsidenten gleich. Zwar befinden sich, formal betrachtet, die politischen Machtinstrumente fast ausschließlich in der Hand der reaktionären Islamisten, Khatami kann sich jedoch auf den Beistand der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung stützen. Das ist ein entscheidender Bonus.

Dann sind also die Islamisten doch nicht in der besseren Position?

Es ist nicht klar, ob die Konservativen Ihre Mittel faktisch einsetzen könnten. Anfang August übertrug Khamenei beispielsweise den Oberbefehl über die Ordnungskräfte an den neugewählten Innenminister Khatamis. Selbst bei der wichtigsten militärischen Organisation im Iran, den Revolutionswächtern, ist unklar, ob sie sich im Zweifelsfall loyal zu den konservativen Kräften verhalten würden. Umfragen besagen, daß über die Hälfte der Wächter bei den Präsidentschaftswahlen für Khatami gestimmt haben.

Wenn Khamenei angekündigt hat, er werde das von Khatami vorgelegte Reformprogramm zur Rettung der ruinierten iranischen Wirtschaft uneingeschränkt unterstützen, dann sind das Rückzugstaktiken. Die Konservativen scheinen sich ihrer Sache nicht mehr sicher zu sein. Der Aufschrei der Orthodoxen gegen den liberalen Khatami-Kurs ist wie das Gebrüll eines zahnlosen Löwen.

Die liberal-islamistischen Tendenzen werden sich also früher oder später gegen die von den religiösen Hardlinern beherrschten Institutionen - die Justiz, den Konsultativrat und Teile der Armeeführung - durchsetzen?

Mit Bestimmheit läßt sich die Entwicklung nicht prognostizieren. Aber in dem Machtgefüge der Islamischen Republik Iran sind Risse entstanden, die nicht mehr zu kitten sind. Es wird immer wieder Rückschläge für die Liberalen geben, aber der grundsätzliche Trend gegen das ideologische System der Welayat-e faqih - der absoluten Herrschaft des Stellvertreter Gottes auf Erden - läßt sich nicht mehr aufhalten.

Sind in Rahmen des islamistischen Staatsmodells tiefgreifende Reformen in Richtung einer iranischen "Zivilgesellschaft", wie Khatami sie favorisiert, überhaupt realisierbar?

Eine demokratische Gesellschaft ist ohne Trennung von Religion und Staat nicht möglich. Seit ihrem Bestehen krankt die Islamische Republik an einem eklatanten und unüberbrückbaren Widerspruch, der in der iranischen Verfassung verankert ist. Einerseits gibt sie ein System vor, das theoretisch als demokratisch bezeichnet werden könnte. Die Verfassung bejaht eine unabhängige Rechtsprechung, eine Teilung von Legislative und Exekutive sowie die Wahl eines Parlaments, freie Meinungsäußerung und dergleichen. Andererseits sieht die Verfassung die Welayat-e faqih vor, der "Stellvertreter Gottes" sei die höchste Autorität. Dadurch werden alle demokratischen Zugeständnisse zur Farce.

Dieser Widerspruch existiert bereits seit dem Bestehen der Islamischen Republik. Nur die Persönlichkeit Khomeinis garantierte, daß dieser Widerspruch nicht so deutlich in Erscheinung treten konnte. Seitdem der Ayatollah tot ist, ist dieser Widerspruch aber offensichtlich.

Welche Rolle spielt Khatami darin?

Khatami ist die Personifizierung dieses Systemwiderspruchs. Er plädiert einerseits für eine zivile Gesellschaft, andererseits bekennt er sich zur Verfassung und damit auch zur Welayat-e faqih. Er ist aus dem Prozeß hervorgegangen, der zur internen Polarisierung geführt hat. Wie weit er selbst diesen Prozeß - und damit das Ende der Islamischen Republik - vorantreiben wird, läßt sich nicht eindeutig bestimmen. Die Entwicklung dürfte aber dazu führen, daß der Führer der Islamischen Republik irgendwann von der Bevölkerung gewählt wird. Das wäre ein Aus für das bisherige politische System. Khatami hat auf jeden Fall eine grundsätzliche Änderung des gesellschaftlichen Klimas erreicht. Die Menschen haben mittlerweile den Mut, offen gegen das Regime der Konservativen zu protestieren.

Die Jugendlichen und die Frauen im Iran gelten als "Speerspitze des Widerstands" gegen das konservativ-islamistische Mullah-Regime. Welche Bedeutung haben sie für den innerislamistischen Machtkampf?

Es ging den Mullahs im Iran darum, ihre ethischen, moralischen und philosophischen Vorstellungen durchzusetzen - sei es durch Terror, Hinrichtungen oder Repression. Dagegen haben vor allem Frauen und Jugendliche versucht, auf allen gesellschaftlichen Ebenen Widerstand zu leisten. In westlichen Ländern ist das schwer nachzuvollziehen, aber die demonstrative Mißachtung der Bekleidungsvorschriften kommt im Iran einem revolutionären Akt gleich.

Für solche Vergehen wurden in der Vergangenheit Zehntausende Frauen ausgepeitscht oder inhaftiert. Die Kleidungsvorschriften sind eng mit islamischen Wertvorstellungen verknüpft. Frauen und Jugendliche protestieren gegen diese Ehtik und die mittelalterlichen Vorstellungen der Mullahs. Insbesondere die Frauen, die ja im Iran nach islamischer Rechtsauffassung Bürger zweiter Klasse sind, führen einen unerbittlichen Kampf, um ihre legitimen Rechte einzufordern. An den Universitäten haben sie durchgesetzt, daß wesentlich mehr Frauen studieren können als in Anfangszeit der Islamischen Republik. Sie haben öffentliche Anstrengungen unternommen, gegen die konservativen Werte vorzugehen. Und das alles ohne strategisch-politisches Programm. Ihre praktischen Erfahrungen sind viel politisierender und effektiver als irgendein theoretisch konzipiertes Manifest.

Leidet die liberale und linke iranische Opposition tatsächlich - wie Asghar Schirazi behauptet - an einer gestörten Wahrnehmung und Fehlinterpretation der iranischen Gesellschaft?

Den meisten exiliranischen Gruppen fehlen konkrete Kenntnisse über die iranische Gesellschaft. Das war schon bei der Revolution von 1979 der Fall. Deswegen waren wir alle überrascht, als die Islamisten plötzlich die politische Macht übernahmen. Kein linker oder liberaler Oppositioneller hätte gedacht, daß die Mullahs die Herrschaft im Iran ergreifen könnten. Wir hatten zu wenig Ahnung von den gesellschaftlichen Verhältnissen des Landes, und dieses Manko besteht leider weiterhin.

Welchen Aufgaben sollte sich die Opposition also widmen, um auf der politischen Bühne des Landes stärker präsent zu sein?

Die oppositionellen Gruppierungen sollten sich mit der Situation im Iran ernsthaft auseinandersetzen, statt allgemeine Statements und Programme zu verkünden und an überkommenen politischen Klischees festzuhalten. Die politische Lage im Iran sollte intensiver und differenzierter betrachtet werden. Außerdem sollte die Opposition ihr Politikverständnis ändern. Politische Veränderungen vollziehen sich nicht nach Parteiprogrammen oder durch ausschließlich ökonomische Forderungen. Kulturelle und historische Entwicklungen sollten stärker berücksichtigt werden. Dadurch ließe sich ein notwendiger Lernprozeß anstoßen, denn die Vergangenheit der Opposition ist durch Fehler und Niederlagen gekennzeichnet.