Rußland in der Krise - Deutschland in der Klemme

Der Niedergang Moskaus und der deutsche Sonderweg

Politische Beobachter sehen dem Ende des Moskauer Sommers mit Besorgnis entgegen. Der Präsident Boris Jelzin hat seinen Urlaub vorzeitig abgebrochen, um "den für diesen Herbst zu erwartenden Schwierigkeiten vorzubeugen", der demokratische Oppositionsführer Gregorij Jawlinski fühlt sich an die Hochspannung vor dem Putsch im August 1991 erinnert.

Was aber wird aus der fragilen "Neuen Weltordnung" der Nato, wenn - nach der Wahl im Jahr 2000 oder durch Gewalt schon morgen - ein anti-westlicher Politiker an die Stelle Jelzins tritt? Oder wenn sich die exportstarken Öl- und Gasregionen im Kaukasus und in Fernost selbständig machen? Eine Mafia-Republik in Tschetschenien gibt es bereits, schon bald könnte ein atomar bewaffnetes Absurdistan im sibirischen Osten oder ein fundamentalistisches Kalifat an der islamischen Südflanke folgen.

In dieser Situation setzt Deutschland bis dato verzweifelt auf die Stützung Jelzins. Diese Liaison kommt Deutschland teuer, vielleicht zu teuer. Von den 171,1 Milliarden Dollar Auslandsschulden, die das Institute of International Finance im Mai 1998 für Rußland errechnet hat, entfällt der Löwenanteil auf deutsche Gläubiger. Rechnet man Zahlungen und Kredite zusammen, die zwischen Ende 1989 und Ende 1997 von der Bundesrepublik geleistet bzw. zugesagt worden sind, so kommt man auf den stolzen Betrag von 133,1 Milliarden Mark.

Neben Geld-Geschenken und unentgeltlichen Leistungen in Höhe von immerhin 21,6 Milliarden Mark, die Waigel längst auf den Steuerzahler umgelegt hat, sind noch gewaltige Beträge offen: Auf 84,1 Milliarden Mark summieren sich die Kredite, Kredit- und Kapitalanlage-Garantien, die von deutscher Seite gewährt worden sind.

Ein Papier aus dem Bundesfinanzministerium ("Verschlußsache - Nur für den Dienstgebrauch") von Mitte Juni beziffert die Ausgaben für "Umschuldungen und politische Schäden" im vergangenen Jahr auf fast 4,4 Milliarden Mark, 3,7 Milliarden Mark entfielen allein auf die Nachfolgestaaten der früheren Sowjetunion. "Auch für die kommenden Jahre ist mit hohen Ausgaben (...) zu rechnen", heißt es wörtlich. In Zahlen ausgedrückt: Knapp 30 Milliarden Mark beträgt nach dieser Aufstellung das "Entschädigungsrisiko des Bundes" für die Schulden Rußlands und der ehemaligen UdSSR (Moskau hat deren Schulden übernommen) - damit wackeln dort bald genau so viele deutsche Kredite wie in den asiatischen Krisenländern zusammengenommen.

Ebenso hoch wie die Risiken für den Bundeshaushalt sind die Gewinnaussichten für die deutsche Privatwirtschaft. Deutsche Exporteure haben ihre Warenlieferungen an Rußland wasserdicht absichern lassen - das Geld, das sie von den Russen für ihre Lieferungen bekamen, war meist von deutschen Banken vorgestreckt worden, für die im Notfall zusätzlich noch der Bund bürgte.

Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) kritisiert, daß die bundesdeutschen Kredite an die Russen "häufig formell oder informell an die Verpflichtung gebunden sind, bestimmte Güter aus dem Geberland zu beziehen". Von jeder Mark, die etwa 1994 netto bei russischen Schuldnern ankam, flossen durch dieses Junktim 97 Pfennig in die Taschen deutscher Exporteure zurück, errechneten die Analytiker.

Auch die deutschen Privatbanken leben nicht schlecht vom Rußland-Geschäft. Ihre Netto-Forderungen gegenüber russischen Schuldnern belaufen sich auf knapp 50 Milliarden Mark - genauso viel wie die aller übrigen westlichen Finanzinstitute zusammen. Die Deutsche Bank als Spitzenreiter verweist stolz darauf, allein seit 1996 Kredite im Umfang von acht Milliarden Mark "arrangiert" zu haben. Deutschbanker Klaus Papenbrock hat zwar errechnet, daß nur sechs Milliarden Mark der deutschen Privatkredite kurzfristig, d.h. mit Laufzeiten von weniger als einem Jahr, vergeben worden seien.

Doch die Langfristigkeit der übrigen Darlehen verbürgt nicht ihre Rückzahlung: Die US-amerikanische Investment-Bank Goldman Sachs hat herausgefunden, daß die Schuldner der Deutschen zu fast 80 Prozent lokal tätige russische Banken seien, die wirtschaftlich auf wackeligen Beinen stünden. Aber auch die Ausleihungen der Privatbanken kamen meist erst zustande, nachdem ihnen die Bundesregierung das Risiko über Bürgschaften abgenommen hatte.

Wem die Rußland-Hilfe des Westens am meisten nützt, zeigte sich in der Rubel-Krise Mitte Juli. Internationaler Währungsfonds (IWF) und Weltbank sprangen mit einer 22-Milliarden-Dollar-Finanzspritze ein, um die russische Zahlungsunfähigkeit in letzter Minute abzuwenden. Auf 30 bis 35 Milliarden Dollar hatten sich die kurzfristigen Verbindlichkeiten Moskaus summiert, ein Viertel der Summe beanspruchten ausländische Gläubiger, während die Moskauer Devisenreserven auf gerade noch 13 Milliarden Dollar abgeschmolzen waren. Mit anderen Worten: Die westlichen Finanzinstitutionen haben mit den Geldern ihrer Mitgliedsländer, das heißt aus öffentlichen Kassen, private Kapitalanlagen gerettet.

Erneut sprang auch der deutsche Staat ein: 2,1 Milliarden Mark beträgt der Anteil der Bundesbank an der Hilfsaktion. Im Bundesfinanzministerium gibt man sich gelassen: Der neue Kredit sei sicher, da er nicht der Moskauer Regierung, sondern dem IWF gewährt worden sei.

Dabei hat selbst IWF-Direktor Michel Camdessus Anfang Juli gewarnt, daß "die Liquidität des IWF nicht mehr für eine neue Krise reicht". Wohlgemerkt: Er stieß den Kassandra-Ruf aus, noch bevor er für den neuen Jumbo-Kredit auch noch die eisernen Reserve antasten mußte. Was die Jelzin-Regierung vom IWF jetzt vorgestreckt bekommt, stammt aus dem Notfallfonds, den die zehn reichsten Industriestaaten eigentlich ausschließlich für einen Finanz-GAU in den eigenen Reihen reserviert hatten. Wie geholfen werden soll, wenn etwa Japan in Kürze auf die Intensivstation des IWF eingeliefert werden müßte, steht in den Sternen.

Summa summarum: So saftig die Gewinne der deutschen Privatwirtschaft im Rußland-Geschäft auch sein mögen, so desaströs sind die Auswirkungen auf den ideellen Gesamtkapitalisten, den Staat. Gerade aus seiner Schwäche könnte sich jedoch eine neue Aggressivität ergeben. Die ökonomische Symbiose mit dem "kranken Mann im Kaukasus" könnte das wiedervereinigte Deutschland in Widerspruch zu den übrigen westlichen Staaten bringen, die sich nur mit einem Bruchteil der Beträge dort engagiert haben und im Gegensatz zu Deutschland nicht von russischen Gas- und Öllieferungen abhängig sind.

Ein Worst-Case-Szenario könnte folgendermaßen aussehen: Sollte ein anti-westlicher Diktator morgen an die Stelle Jelzins treten und die Auslandsschulden des Landes annullieren, müßte die Bundesregierung für die verlorenen Außenstände der Privatbanken geradestehen und verlöre dadurch ihre Bonität an den internationalen Finanzmärkten, die deutschen Wertpapiere stürzten in den Keller.

Dann wäre Deutschland in der Klemme: Soll es mit dem neuen Zaren eine Sondervereinbarung nach dem Muster von Rapallo schließen, um wenigstens einen Teil der Außenstände zu retten? Das wäre eine Kampfansage an den Westen, die Nato-Partner. Oder soll es die Sezession der ölreichen Regionen von Rußland stimulieren und diese tributpflichtig machen? Das wäre eine Kriegserklärung an Moskau.