London, gefühlsecht

Auch ein Jahr nach dem Tod von Lady Di weckt das größte Medienereignis der Geschichte kaum analytische Begehrlichkeiten.

Merkwürdig verblaßt scheinen heute die Erzählungen, mit denen sich vor einem Jahr die Medien aus Anlaß des Todes von Lady Diana Spencer aufgipfelten, und man hat keineswegs den Eindruck, daß sie inzwischen "historische Patina" angesetzt haben, eher vermeint man, eine vergangene Fernsehserie zu erinnern oder ein Sportereignis - und so, in der Erinnerung, findet das als welthistorisch annoncierte Ereignis sich doch schon nach angemessen kurzer Frist auf den ihm gebührenden Rang eines mittelprächtigen Unterhaltungsevents zurückgestuft.

Selbst die Boulevardmedien hielten sich beim Todestag-Jubiläum merklich zurück, und bis auf die unvermeidlichen Fans und Faktoten, die "ihre" Lady Di nun ebenso wie James Dean, Marylin Monroe, Grace Kelly und Sissi verehren, will kaum ein Mensch mehr mit neuen Einzelheiten der ausufernden Story behelligt werden. Das ist, auch wenn man es gern gesehen hätte, daß die trauernden Anhänger der britischen Monarchie sich den Rest ihres Lebens mit albernen Pikanterien aus dem Leben der Prinzenmutter malträtieren lassen, ja auch gut und recht so.

Das linke Milieu hat nicht nur weitgehend versäumt, sich mit dem Kasus zu befassen, sondern wohl auch manche Zähre weggedrückt, um nicht als Teil der boulevardfixierten Massen entdeckt zu werden. Was hätte es auch anderes tun können, als kein Fernsehprogramm auszuwählen - neun deutsche Kanäle übertrugen die Trauerprozession live -, keine Zeitung aufzuschlagen - es gab in der gesamten deutschen Presse (Titanic und Konkret zählen hier nicht) keinen einzigen Fall von "Pietätlosigkeit" -, keinen Flieger nach London zu nehmen, um sich dort in den Reigen der Trauernden zu mischen? Emigrieren? Wohin? Protestieren? Gegen wen? Die halbe Menschheit?

In ihrer längeren Geschichte haben als links firmierende Kräfte kein einziges Mal vermocht, 2,5 Milliarden Menschen (eine dubios-magische Zahl gewiß, von der keiner weiß, wie sie zusammengerechnet ist, die aber "in der Tendenz" stimmen dürfte) zu mobilisieren, und sei es nur dafür, gewisse Gemütsregungen zu bekunden. Als Karl Marx starb, wurde er zwar, wie Friedrich Engels am Grabe ausrief, "betrauert von Millionen revolutionärer Mitarbeiter, die von den sibirischen Bergwerken an über ganz Europa und Amerika bis Kalifornien wohnen", aber die wenigsten von ihnen werden es mitbekommen haben.

Als der Realsozialismus unterging, trauerten wahrscheinlich weniger, als der FC Chemnitz zu seinen Fans zählt. Doch wenn eine abgelegte Hofschranze verunglückt - deren einziges Verdienst es war, ein paar Fototermine auf Wohltätigkeitsveranstaltungen gelegt zu haben, und über die sich noch am Tag ihres Todes der Observer mokierte, daß ihre Äußerungen stets als von aristotelischem Genius zeugende behandelt würden statt "als Geplapper einer Frau, die man, wäre ihr Intelligenzquotient fünf Punkte niedriger, täglich gießen müßte" -, dann rotieren die Rotationsmaschinen, dann ist ihr Bild in allen Winkeln der Erde, dann läßt die halbe Menschheit den Kopf hängen.

Mag sein, dies sind Inkommensurabilitäten, Konsequenzen eines Verblendungszusammenhangs, Resultate von Manipulationsprozessen. Was es immer ist, die Linke sollte sich, wenn sie, was Menschen bewegt, was angeht, vielleicht drum kümmern.

Die Bewegung, welche die Leute in der Woche nach dem Tod von Prinzessin Diana erfaßte, war bei genauerer Inspektion allerdings eine, die nirgendwohin führte. Zwar verkündet The Mirror in diesen Tagen, daß der Tod von Lady Di das Leben jeder zehnten Britin verändert habe und 77 Prozent der Britinnen nach wie vor Trauer trügen, aber das ist eher fragil. Den Fortgang der Weltgeschäfte haben die Ereignisse um den Unfalltod nicht beeindrucken können, es gibt nicht weniger Landminen seither, nicht einmal für neue Alkohol-Limits bei Spitzenchauffeuren hat's gereicht. Von einer "Modernisierung" der britischen Monarchie, die Lady Di bewerkstelligt haben soll, ist ebenfalls nichts zu spüren, wobei die einzige "Modernisierung" dieser Anstalt, die sich denken läßt, ihre Abschaffung wäre.

So war ihr Tod so wie ihr Leben zwar nicht umsonst, jedoch vergeblich? Nicht ganz, einige nachhaltige Effekte lassen sich angeben. Zum einen verstärkte der mediale Kokolores um die hochgestellte Tote ein meßbares gesellschaftliches Bedürfnis nach einer authentischeren, gefühlsechten, "menschlicheren" Repräsentation der herrschenden Klasse. Ihre Repräsentanten sollen uns so vertraut und gleichzeitig so entrückt sein wie die Figuren der uns umgebenden Fernsehserien, sie sollen Anstand und Glamour miteinander verbinden und sich über Not und Elend bekümmert zeigen. Indem der Realismus einer derartigen Inszenierung den unseres eigenen Lebens überbietet, entwertet er diesen auch und entmündigt uns sozusagen sukzessive.

Zum anderen transportiert der Diana-Mythos bei aller Seifigkeit natürlich auch seine Ideologien, welche die öffentlichen Diskurse unauffällig dominieren, etwa: Reichtum macht auch nicht glücklich, die intakte Familie ist das höchste Gut, gegen sein Schicksal kann man nicht aufbegehren, das Königtum muß sich seiner Auserwähltheit würdig erweisen, wenn es ernst wird, rücken die Menschen zusammen Ö und dergleichen Zauberformeln aus der konservativen Wundertüte mehr.

Zum dritten schließlich bahnte das größte mediale Ereignis der Weltgeschichte, ähnlich wie es in kleinerem Umfang Sportereignisse tun, den Weg für im größerem Maße der Wirtschaft verpflichtete Events, als deren Zielgruppe nun erstmals die gesamte Menschheit ins Auge gefaßt werden kann. (Der nächste Spitzenquote wird ein CNN-Interview mit Monica Lewinsky erreichen, gesponsert von Pizza Hut, rundherum gut.)

Ziel und Ergebnis dieser nicht nur bei der Erzeugung des exorbitanten Rummels um die "Königin der Herzen" auf höchsten Touren laufenden Medien- und Konsensmaschinerie ist "im Endeffekt" der alles vermögende, zu nichts in der Lage seiende, universell paralysierte Empfangsmensch. Eine Entwicklung, eine Schöpfungsgeschichte kommt hier zum Abschluß, an deren Anfang der göttliche unbewegte Beweger und an deren Ende, nicht ganz unplausibel, sein spiegelverkehrtes Ebenbild, der bewegte Nichtbeweger o.s.ä., steht - falls nicht die zunehmende Partikularisierung und Differenzierung der Medien, Mythen und Diskurse eine erneute Unio mystica zwischen Sendern und Zielgruppe, wie sie im Fall von Lady Di märchenhaft aufschien, unwiederholbar werden läßt.

Der Autor ist Herausgeber des Aufsatzbandes "The Neurose of England. Massen, Medien, Mythen nach dem Tod von Lady Di", erschienen im Konkret Literatur Verlag