Ganz normale Historiker

Auf dem 42. Deutschen Historikertag kam die Rolle der Geschichtswissenschaftler als willige Helfer des Nationalsozialismus ganz vorsichtig zur Sprache.

"Ich wollte nicht länger schweigen!" - offenbar ist es für Historiker immer noch ein Tabubruch, über die Beteiligung der eigenen Zunft an den Verbrechen des Nationalsozialismus zu sprechen. Dennoch leitete Johannes Fried, Vorsitzender des Deutschen Historikerverbandes, mit seiner Eröffnungsrede auf dem am vergangenen Freitag zu Ende gegangenen 42. Deutschen Historikertag eine überfällige Debatte ein.

Gegen Dietrich Erdmann, Theodor Schieder und Werner Conze - alle drei sind Amtsvorgänger Frieds - waren "schlimme Vorwürfe wegen ihrer NS-Vergangenheit" erhoben worden. Conze (1910 bis 1986) hatte die "Entjudung der Städte und Marktflecken" Polens gefordert, um so "einen Herd dauernder Spannung und revolutionärer Umtriebe" zu entschärfen. Nach dem Krieg avancierte er zu einem der führenden Sozialhistoriker der BRD.

Auch Theodor Schieder (1908 bis 1984) forderte "Bevölkerungsverschiebungen allergrößten Ausmaßes" und die "Herauslösung des Judentums aus den polnischen Städten". Der Historiker Götz Aly wirft Schieder und Conze vor, sie seien überzeugte Anhänger des Nationalsozialismus gewesen. Die "Säulenheiligen der modernen Zeit- und Sozialgeschichtsforschung" hätten aus "karrieristischem Kalkül" dem "Aufstieg der mörderischen Ideen" Vorschub geleistet.

Doch Conze, Erdmann und Schieder, zu deren Schülern solch prominente Historiker wie Lothar Gall, Eberhard Jäckel, Hans-Ulrich Wehler sowie Hans Mommsen und Wolfgang J. Mommsen zählen, waren keine Einzelfälle. Ein großer Teil der deutschen Historiker, die mehrheitlich antidemokratisch, obrigkeitsstaatlich und national-konservativ geprägt waren, konnte sich 1933 für die "kopernikanische Wendung" (so der spätere Hamburger Uni-Rektor Adolf Rein) begeistern. Ein wesentlicher Grund, weshalb sie von Bismarck zu Hitler überliefen, war ihre Feindschaft zur parlamentarisch-demokratischen Republik. Dies sei eine "Irrbahn", die erst durch die Machtübergabe an die Nazis wieder verlassen worden sei; "der rechte Weg" sei nun "wiedergefunden" worden - so Johannes Haller stellvertretend für die rechte Mehrheitsströmung.

Unmittelbarer Zwang spielte dabei eine untergeordnete Rolle: So konnten oppositionelle Positionen durchaus noch veröffentlicht werden, wie einige wenige Beispiele belegen. Noch in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre war z.B. Kritik am Kriegskurs möglich; auch die Verletzung rechtsstaatlicher Normen und der Antisemitismus konnte von einer Minderheit kritisiert werden. Einige Professoren verzichteten aus Protest auf ihre Ämter.

Von denen, die weiter an den Universitäten lehrten und forschten, haben nicht wenige in ihren Veröffentlichungen versucht, der NS-Politik eine historische Legitimation zu verschaffen. Ein Angebot, das von den Nazis gerne angenommen wurde.

Der Berliner Historiker Peter Schöttler wirft der "Bonner Schule" vor, sie habe das ideologische Rüstzeug für den Krieg an der Westfront geliefert, Hitler habe sich vor dem Angriff auf Belgien und Frankreich "ausdrücklich auf rheinländische Forscher bezogen". Auch Theodor Schieders Umsiedlungspläne wurden handlungsanleitend, sie seien von Adolf Eichmann aufgegriffen worden, so Götz Aly.

Die Verstrickung der deutschen Geschichtswissenschaftler in das NS-Regime wurde bisher im wesentlichen beschwiegen und verharmlost, Kritik an den "Altvorderen" der Geschichtswissenschaft wurde selten laut. Eine gewisse opportunistische Anpassung wurde gerade noch eingestanden, jedoch auch hervorgehoben, daß in der NS-Zeit auch wertvolle Forschungsergebnisse erzielt worden seien. Belastende Aufsätze und Bücher aus den Jahren 1933 ff. tauchten in den Literaturverzeichnissen einfach nicht mehr auf.

Vor diesem Hintergrund muten einige Passagen aus Johannes Frieds Rede beinahe revolutionär an: "Historiker verbreiteten und legitimierten, oftmals der Entwicklung vorauseilend, jenen übersteigerten Nationalismus, jene völkischen Überzeugungen mit Einschluß des 'zeitüblichen' Honoratioren-Antisemitismus, jenen Antliberalismus, jene Feindschaft zur Demokratie, jenen radikalen Antimarxismus, jene Verherrlichung des Führerprinzips (...) und mit diesen Wertsetzungen jene katastrophalen geistigen Bedingungen, die (...) dem Nazi-Regime Wege geebnet haben."

Und doch: Auf Druck einiger Kollegen soll Fried sein Redemanuskript "entschärft" haben, berichtet die Zeitung Mainecho. So betonte Fried denn auch, daß "wir Spätgeborenen (...) uns nicht zu Klägern und Richtern aufschwingen" dürften. Der Verband müsse halt "ein bißchen taktisch handeln", und schließlich sei die Wirkung manchmal größer, "wenn man etwas langsamer vorgeht", so Fried.

Der Heidelberger Kirchenhistoriker Gerhard Besier betonte in der Welt, daß das Hinweggehen über "bestimmte Vergangenheitsaspekte" nun "gefahrlos aufgegeben" werden könne, jedoch dürften auch SED-Historiker nicht aus der Kritik ausgenommen werden. Andere sprachen von einem "symbolischen Großvatermord" an längst verstorbenen Historikern, wieder andere warfen Fried vor, er reite auf einer Modewelle. Der Berliner Historiker Peter Schöttler begrüßte, daß die eigene Disziplin sich mit den "ganz normalen Historikern" beschäftige, die den Nazis ideologisch zugearbeitet hätten. Ganz traut auch er der neuen Offenheit nicht: "Der äußere Eindruck trügt."

Turbulent ging es schließlich auf der Veranstaltung "Deutsche Historiker im Nationalsozialismus" zu. Götz Aly versuchte, mittels einer Collage-Technik Analogien zwischen Schieders vor und nach 1945 erschienenen Schriften herzustellen, wobei er eine NS-Terminologie in dessen Nachkriegsschriften einfügte. Wolfgang Mommsen verteidigte seinen Lehrer: Dieser sei ein Nationalkonservativer gewesen und habe seine Umsiedlungspläne als Assistent "aus ihm gegebenen Material zusammengeschrieben". Dem widersprach Hans Mommsen unter starkem Applaus. Er betonte, daß man "Vordenker der Vernichtung im eigenen Lager" habe.

Mehrere Foren dieses Historikertages widmeten sich verschiedenen Aspekten des Nationalsozialismus, einen der wichtigsten Vorträge zum Themenkomplex hielt die Schriftstellerin Ruth Klüger, Überlebende des Holocaust. Diese Schwerpunktsetzung ist keinesfalls selbstverständlich: Auf dem 41. Historiker-Tag, der 1996 in München stattfand, hatte sich lediglich einer von über 200 Vorträgen mit dem Thema Nationalsozialismus beschäftigt.

Eine von den Verlagen Fischer und Campus organisierte Podiumsdiskussion mit dem Titel "Goldhagen - Kein Thema für den Historikertag?" mußte damals ins Bayrische Staatsarchiv verlegt werden, da der Historikerverband nicht bereit war, die Veranstaltung zu unterstützen. Das Thema Goldhagen sei "ausdiskutiert", hatte der damalige Vorsitzende Lothar Gall kategorisch erklärt.

Zu den Sponsoren des 42. Historikertages zählt der Degussa-Konzern, der vom Holocaust in zweierlei Hinsicht profitierte: Die Tochterfirma Degesch lieferte den Nazis das "Schädlingsbekämfpfungsmittel" Zyklon B, während der Mutterkonzern Schmuck, Münzen, Wertsachen und Zahngold der vergasten Juden einschmolz. Derzeit läuft eine Entschädigungsklage jüdischer Opfer gegen den Konzern.

Daß ausgerechnet Degussa einen Kongreß sponsert, der sich schwerpunktmäßig mit dem Nationalsozialismus beschäftigt, ist nach Aussagen der Organisatoren kein Problem. Als die Sponsorenverträge abgeschlossen wurden, sei die Reaktion des Konzerns auf die Entschädigungsforderungen der jüdischen Opfer noch nicht absehbar gewesen, nun sei man verpflichtet, die Verträge einzuhalten, so hieß es.

Inzwischen läßt auch Degussa seine Konzerngeschichte aufarbeiten, denn man sei sich "heute (...) der Einbindung des Unternehmens in das totalitäre nationalsozialistische Wirtschaftssystem bewußt". Während konzernkritischen Historikern seit einiger Zeit der Zugang zu den Firmenarchiven verweigert wird, durfte ein "unabhängiges" Historikerteam vor einem Jahr an die Arbeit gehen. Ob es wohl zu ähnlichen Ergebnissen kommt wie Hans Mommsen in seiner Studie zum VW-Konzern?

Mommsen hatte dem "sozialpolitischen Musterbetrieb" in einer Studie attestiert, er habe von den Nazis Rüstungsaufträge nur angenommen, "um die Existenz des Werkes und seiner Stammbelegschaft zu sichern", während die "Produktion des Volkswagens primär als sozialpolitische Aufgabe" angesehen worden sei. Auch den Zwangsarbeitern sei es bei VW "wesentlich besser" gegangen als in Auschwitz, ihre Beschäftigung habe "in mancher Beziehung eine erstaunliche organisatorische und logistische Leistung" dargestellt.

Daß die hochbetagten Kläger die Veröffentlichung der Degussa-Studie noch erleben werden, ist eher unwahrscheinlich: Die Aufarbeitung komme nicht voran, kritisierte Ignatz Bubis Ende August.