Rote Fähnchen für Kaiser's

Gefährliche Orte XXXVIII: Friedrichshain-West ist ostiger als man denken sollte

Für Friedrichshainer Lokalpatrioten linken oder einfach auch nur hippen Typs beginnt westlich der Tramlinie 20 das Niemandsland. Was sich hinter dieser Demarkationslinie abspielt, kann nur erahnt werden. Die komplette Westhälfte des Friedrichshains wird in der Regel nicht betreten, allenfalls durch- (S-Bahn / Karl-Marx-Allee), unter- (U5), am liebsten aber umfahren (Kreuzberg / Prenzlauer Berg). Die Alltagserfahrungen mit dem Terrain zwischen Warschauer / Petersburger Straße und dem Strausberger Platz, zwischen Volkspark und East-Side-Gallery halten sich deutlich in Grenzen.

Mit der im Bezirk gängigen Unterteilung in "Nordkiez" und "Südkiez" ist lediglich das von Wessis okkupierte, geographisch gesehen östliche Friedrichshain gemeint. Friedrichshain-West dagegen ist an kulturell authentischer Ostigkeit kaum zu überbieten, weshalb ihm die Weihen der Kiezzugehörigkeit konsequent verweigert werden müssen.

Die überbordende Funktionalität der Architektur dieses Niemandslands (in Reinform etwa am ehemaligen ND-Hochhaus am Franz-Mehring-Platz zu beobachten) wird vom Outfit der auf der Straße anzutreffenden Bewohner nicht in Frage gestellt. Grau-braun ist hier immer noch en vogue - im Sommer wie im Winter. Kein Wunder also, daß die bei der letzten Bundestagswahl für die PDS als Direktkandidatin erfolgreiche Christa Luft gerade hier ihr Wahlkreisbüro unterhält.

Auch der Fascholaden East Side findet sich hier, an der Ostgrenze des Westteils, nur einen Steinwurf von Friedrichshains geographischem Mittelpunkt entfernt. Wohl nicht nur deshalb verweigert sich die von West-Autonomen (bislang recht erfolgreich) gesteuerte "Bewegung Groß-Friedrichshain" konsequenterweise der Arbeit an der "inneren Einheit" des Bezirks, sondern schmiedet eifrig an Plänen, wie man sich in naher Zukunft jene Teile Kreuzbergs wieder einverleiben könnte, aus denen man vor Jahren vertrieben wurde.

Ein klarer Fall also: Die Friedrichshainer No-go-area wird am besten totgeschwiegen. Nach "drüben" mag hier, nicht anders als früher, kaum jemand gehen. Einer der wenigen Punkte, den vor allem die südlichen Grenzanrainer immer wieder anlaufen, ist (neben dem Lidl im Ostbahnhof) die Kaiser's-Filiale Revaler / Ecke Warschauer Straße. Hier zeigt sich die Friedrichshainer Ostkultur in ihrer modernisierten Variante.

Hat man sich glücklich zwischen zwei eher konventionellen Imbißbuden, einem Quarkkeulchen-Wagen (nur im Winter), fünf bis 27 Punks und einem vietnamesisch kontrollierten Textilmarkt zum Eingangsbereich durchgeschlängelt, fallen einem schon die ersten Stolperfallen vor die Füße. Drei Pseudo-Mountainbikes, deren ureigentliche Bestimmung es wohl sein sollte, hier als "Schnäppchen" rausgeschoben zu werden. Aber als Staubfänger haben sie den Ortsansässigen offenkundig besser gefallen.

Noch erstaunt über die Vielseitigkeit des Geldautomaten, der hier auch Kontoauszüge ausdruckt, fällt mein Blick nach draußen. Ein "KAI$ER'$"-Graffito ruft in Erinnerung, daß sich die sozialistische Einheitskultur zumindest staatsoffiziell als antikapitalistisch verstand. Und in der Tat: Im Alltagsbewußtsein scheint davon einiges hängengeblieben zu sein. Die Angestellten, für die bei Kaiser's ganzjährig Kostümzwang besteht, kümmern sich um nichts. Derweil klauen die Kids in der Leergutannahme reihenweise Sprudelkisten, um sie zehn Minuten später an den Ältesten der Kostümierten mit einem Reingewinn von 6 Mark 60 pro Stück zu verhökern. An den Antipasti-Auslagen, in deren Nähe Einheimische nur nach Geschäftsschluß zu sehen sind, verschaffen sich in der Zwischenzeit Langzeitstudentinnen aus dem Südkiez durch geschicktes Manipulieren der Waage erhebliche Preisvorteile. Aber schon an der Fleischtheke wird mir bewußt, daß der Kapitalismus auch drüben nicht aufzuhalten ist. Dieser Umstand wird zwar in der Regel durch stattliche Warteschlangen kaschiert, aber an dem bislang einzigen Tag mit freiem Zugang zu den Auslagen traf ich lediglich eine völlig verstörte Fleischereifachverkäuferin an, die etwas von einem Kunden stammelte, der sich soeben ein blutiges Rinderherz habe aushändigen lassen - um es an Ort und Stelle zu verspeisen: "Dat, dat is doch nich nohmaal, oder?"

Hat man sich erfolgreich ans Bezahlen gemacht - und nicht die Kasse mit Frau Lenz erwischt - bleibt noch etwas Zeit für Kaiser's-Backshop. Hier, wo das Kommißbrot das einzig akzeptable Produkt seiner Art darstellt, hat sich eine an sich liebenswürdige Eigenart unprätentiösen Verkaufsverhaltens erhalten, die nur in einer Gesellschaft entstehen konnte, in der Product Placement weitgehend überflüssig war. Doch dieser gesunde Pragmatismus trifft die Falschen: die Brötchen. Sie werden hier in dreierlei Ausfertigung feilgeboten: als Alterberliner Schrippe (18 Pfennig), als Spitzbrötchen (25 Pfennig) und als Brötchen (28 Pfennig).

Jeder Versuch, das vom Einkaufswagen wieder ausgespuckte Markstück auf dem üblichen Weg in vier Exemplare der einzig genießbaren Brötchensorte einzutauschen, endet unweigerlich in folgendem Dialog: "Der Nächste." - "Vier Spitzbrötchen, bitte." - "Fünfunzwanzjaa oder Achtenzwanzjaa?" Hat man es eilig, spart man sich die immergleiche Dialogschleife und bestellt gleich vier "Fünfunzwanzjaa". Selbstredend verpackt man hier konsequent in Plastiktüten. "Wir könn'et uns ja jetz' leisten, nach all den Jahr'n." Ach so. Daß in Papiertüten verpackte Backwaren für West-Sozialisierte zu den verbrieften Menschenrechten zählen, ahnt man an diesem unseligen Ort vermutlich nicht mal im entferntesten.

Draußen angekommen wechsle ich sofort die Straßenseite und nehme heimwärts noch einen kleinen Umweg in Kauf. Im Kiezladen in der Boxhagener Straße fällt mein Blick voller Genugtuung ins Schaufenster. Auf der der Kiezkarte "Kriminalitäts- und Gewaltprävention", die sicherheitshalber auch noch die Westseite der Warschauer mit einschließt ist es deutlich zu sehen: Zwei rote Fähnchen für das Kaiser's-Areal!