Walter Kemp

»Berisha ist völlig unberechenbar«

Die albanische Hauptstadt Tirana war am vergangenen Samstag Ziel der Fact-finding-Mission einer Delegation der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) unter Führung des polnischen Außenministers Bronislaw Geremek. In einer OSZE-Erklärung vom Freitag heißt es, die Gruppe wolle auf eine Wiederherstellung von Stabilität und politischer Zusammenarbeit hinwirken. Die Delegation führte in Tirana Gespräche mit dem sozialistischen Ministerpräsidenten Fatos Nano, seinem Gegenspieler Sali Berisha und Staatspräsident Rexhep Meidani. Geremek sagte, die OSZE verurteile die gewaltsamen Aktionen von Berisha-Anhängern, in die auch die Demokratische Partei verwickelt sei. Auch die Regierung kritisierte er: Ihr Kampf gegen die Korruption in dem Balkanland gehe zu langsam voran. Nach dem Besuch in Tirana sprach Jungle World mit Walter Kemp, dem Pressechef der OSZE.

Sie waren am vergangenen Samstag gemeinsam mit Bronislaw Geremek in Tirana. Befindet sich das Land am Rande eines Bürgerkrieges?

Bei unserer Fahrt nach Tirana haben wir zwar ein starkes Polizeiaufgebot an allen wichtigen Kreuzungen und Gebäuden bemerkt, von einem Flächenbrand kann aber noch keine Rede sein. Auch die Demonstrationen beschränken sich ja auf einige kleinere Städte im Norden und auf das Zentrum von Tirana. Bis zu einem Bürgerkrieg dauert es also noch.

Sie haben mit Premierminister Fatos Nano und Oppositionschef Sali Berisha verhandelt. Was haben Sie bei den beiden erreicht?

Besonders viel zu erreichen gab es bei Sali Berisha. Wir wollten ihm klarmachen, daß Demokratie nicht auf der Straße ausgetragen wird, sondern es einen Platz für Demokraten gibt: das Parlament. Berishas Demokratische Partei boykottiert seit einem Jahr die Parlamentssitzungen, und wir können beim besten Willen nicht behaupten, daß Berisha uns gegenüber gesagt hätte, er würde wieder ins Parlament einziehen. Aber, wer weiß. Berisha scheint unberechenbar zu sein. Er vertritt eine sehr einfache Auffassung: "Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns."

Gegen ihn ist auf jeden Fall die Regierung. Die hat mit ihrer Parlamentsmehrheit am Freitag Berishas Immunität aufheben lassen. Hat Berisha Angst vor einer Haft?

Es sieht nicht so aus. Er hat immer wieder gesagt, wie stolz er sein würde, verhaftet zu werden, er freue sich aufs Gefängnis.

Hat er Grund zur Freude?

In unseren Gesprächen mit Regierungschef Fatos Nano hatten wir nicht den Eindruck, daß die albanische Regierung darauf erpicht ist, Berisha zu verhaften. Wir haben auch deutlich gemacht, daß Verhandlungen mit ihm wesentlich klüger seien.

Das müßte aber zuerst Berisha selbst begreifen.

Ja, sicher. Das Problem ist nur: Der Mann fühlt sich als legitimes Staatsoberhaupt Albaniens und akzeptiert diese Regierung nicht.

Berisha wünscht sich eine Expertenregierung für Albanien. Haben Sie mit ihm über diese Idee gesprochen?

Ja. Aber grundsätzlich müssen wir uns fragen, warum es überhaupt eine Expertenregierung geben soll. Albanien hat eine gewählte Regierung, und momentan besteht kein Anlaß, das zu ändern.

Die Unruhen der letzten Wochen sind nach der Ermordung des Berisha-Stellvertreters Azem Hajdari in voller Wucht ausgebrochen. Brodelt der Volkszorn wirklich plötzlich hoch?

Fatos Nano hat gesagt, Berisha würde schon seit Monaten seine Leute auf einen solchen Tag trimmen und habe nur auf ein Ereignis wie die Ermordung Hajdaris gewartet. Tatsächlich gibt es einige Indizien für diese Theorie. Und wir haben den Eindruck, daß wirklich der Großteil der Albaner des ewigen Gezänks zwischen Berisha und der legitim gewählten Regierung müde sind.

Berisha könnte verhaftet werden, weil er angeblich einen Staatsstreich anzuzetteln versucht. Meinen Sie auch, seine Aktionen sind ein Putschversuch?

Die Regierung von Fatos Nano behauptet das natürlich. Und auch wir sind der Meinung, daß Attacken auf Staatsgebäude und gewählte Vertreter des Volkes beinahe die Bezeichnung Staatsstreich verdienen.

Genießt Berisha in der albanischen Bevölkerung eine breite Unterstützung?

Nun, das glaube ich nicht so sehr. Schließlich dürfen Sie nicht vergessen, daß viele Albaner in der Ära Berisha ihr gesamtes Vermögen verloren haben, weil die Pyramidenspiele zusammengebrochen sind. Aber Berisha weiß seine Anhänger zu mobilisieren. Wir haben Berisha auch deutlich gemacht, daß seine Regierung niemals von der Staatengemeinschaft anerkannt werden würde, wenn er sich an die Macht putscht. Er muß eben entscheiden, ob er mehr an seiner eigenen Macht hängt oder an der Zukunft Albaniens.

Und woran hängt er mehr?

Das ist schwer zu sagen. Er ist eben ein völlig unberechenbarer Charakter.

Die Ermordung Ajem Hajdaris war der unmittelbare Auslöser für die Unruhen. Berisha hat wiederholt die Regierung Albaniens des Mordes an Hajdari angeklagt. Gibt es dafür Indizien?

Besonders im Norden Albaniens, dort wo Hajdari herkommt, ist die Lage sehr unübersichtlich. Es gibt Verdachtsmomente, daß Hajdari nicht nur Politiker der Demokratischen Partei und guter Freund Berishas war, sondern auch bei der organisierten Kriminalität mitmischte. Ebenso gut ist es also möglich, daß Hajdari einem Bandenkrieg zum Opfer gefallen ist.

Manche Beobachter vermuten, daß die Demonstranten in Tirana auch Unterstützung von Aktivisten der UCK haben.

Das weiß ich nicht. Allerdings flohen in den vergangenen Monaten Zehntausende Kosovo-Albaner nach Albanien, und es ist gut möglich, daß die auch Berisha unterstützen. Schließlich hat er sein Hauptquartier in Tropoje, wo auch die UCK operiert.

Unterstützer findet Berisha vor allem im Norden Albaniens, während der Süden fest in der Hand der sozialistischen Regierung ist. Besteht die Gefahr einer Teilung des Landes?

Ja. Es ist möglich, daß Albanien irgendwann einmal wegen dieser Konflikte zerbricht.