Ausgelöscht am Heldenplatz

Zu Thomas Bernhards später Identifikation mit dem Judentum.

Die Waldheim-Affäre war die österreichische "Wiedervereinigung". Wir sind ein Volk, lautete bereits die geheime Parole jener Mehrheit, die sich hinter den Präsidentschaftskandidaten Kurt Waldheim stellte und gegen das Ausland und den Jüdischen Weltkongreß formierte.

Wie im Falle der deutschen "Wiedervereinigung" handelte es sich nicht um eine plötzlich eingetretene Wende - vielmehr setzte bloß die Beschleunigung von Prozessen ein, die spätestens seit dem Ende der siebziger Jahre im Gange waren. 1986 war übrigens nicht nur das Jahr der Waldheim-Wahl - Jörg Haider gelang es zur selben Zeit mittels eines parteiinternen Putsches, die Spitze der Freiheitlichen Partei Österreichs zu erklimmen.

1986 erschien auch Thomas Bernhards letztes großes Prosawerk "Auslöschung". Darin konzentriert sich der Autor auf die Zerstörung der nationalen Lebenslüge der Zweiten Republik, die da lautet: Österreich sei ein Opfer Hitlerdeutschlands gewesen - nicht anders als später Polen, Frankreich und die Juden. In früheren Werken folgte Bernhard zum Teil selbst diesem Opfermythos, mit dem die eigentlichen Opfer verdrängt werden konnten; so etwa im Fragment "Der Italiener" von 1971, das als eine Art Vorstufe zur "Auslöschung" betrachtet werden könnte.

Als Massenmörder wurden hier "die Deutschen" namhaft gemacht - zu denen die Österreicher nicht gezählt wurden. Wenn aber nun in "Auslöschung" der Privatgelehrte und Schriftsteller Franz Josef Murau sich dazu entschließt, das verhaßte Erbe seiner Eltern auszulöschen, erscheint Österreich mehr denn je als Nachfolgestaat des Dritten Reichs. "Wolfsegg" - der wie eine Beschwörungsformel und Verwünschung wiederholte Name des Schlosses und Ortes, aus dem Murau stammt - steht vor allem für die Kontinuität in diesem Land: Der Vater Muraus hat mit den Naziverbrechern "nach dem Kriege (...) den innigsten Kontakt gepflegt". Voraussetzung dafür war das große Schweigen: "Das Schweigen unseres Volkes über diese Tausende und Zehntausende Verbrechen ist von allen diesen Verbrechen das größte, sagte ich zu den Schwestern. Das Schweigen dieses Volkes ist das Unheimliche, sagte ich."

"In der 'Auslöschung'", schreibt Irene Heidelberger-Leonard, "sind die Österreicher die Henker. Murau weiß noch mehr: daß nämlich erst mit der Tilgung seiner eigenen Komplizität die - wie auch immer virtuelle - Chance gegeben sein wird zur Erschaffung einer 'neuen Welt'." Dennoch sieht die Kritikerin, die dies in ihrem bemerkenswerten Essay erkannt hat, Bernhard scheitern - wobei sie vom Schluß des Romans ausgeht: Murau übergibt das materielle Erbe seiner Eltern, jenes Schloß Wolfsegg, als völlig bedingungsloses Geschenk der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien.

Bernhards Schlußwendung erscheint wie eine Idealisierung von sogenannten "Wiedergutmachungs"- und Entschädigungszahlungen an die Überlebenden und die Angehörigen der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus. Und Irene Heidelberger-Leonard kritisiert Muraus Schenkung als schlechte "politische Lösung", als fadenscheinige Versöhnung der "Menschheitsgeschichte", als "Versuch (...), sich auf materiellem Wege ein gutes Gewissen einzuhandeln, ja, eine 'Buße' zu erkaufen, als ginge es um einen Geschäftsakt."

Was vom deutschen Feuilleton und von deutscher Germanistik, die sich ohnedies in der Apologie Bernhards besonders gefallen, als "großzügig symbolische Geste" wohlwollend aufgenommen wird, empfindet die Literaturwissenschaftlerin aus Brüssel als eine "Beleidigung, wenn nicht gar eine Verhöhnung der jüdischen Opfer". Von diesem "Deus ex machina", diesem "mechanischen Happy-End" aus kritisiert sie auch die von Anfang an spürbare philosemitische Zeichnung der Figur des Juden Eisenberg, die "dem offen antisemitischen Judenbild sicher eher nolens als volens wenig" nachstehe.

Aber in der Welt dieser Prosa ist Wolfsegg eben mehr als nur ein materieller Wert: Es ist eine Metapher für die Komplizität mit den Tätern - eine Metapher, die sich gleichsam verselbständigt. Und das Problem des Werks und seiner Schlußwendung liegt in dieser Allegorisierung. Bernhard braucht sie, damit Murau nicht von dem sprechen und über das nachdenken muß, was er mit dem geradezu naiven Gebrauch der Begriffe Volk - "unser Volk", "österreichisches Volk" - und "Vaterland" offenkundig retten möchte.

Und hier hebt inmitten der Negativität, die Bernhard mit seiner Wolfsegg-Metapher inszeniert, plötzlich der österreichische Patriotismus sein Haupt: Was von Murau beklagt wird, ist "diese nationalsozialistische und pseudosozialistische Zerstörung und Vernichtung unseres österreichischen Vaterlandes", "dieses um alles betrogene österreichische Volk, dem in den letzten Jahrhunderten auf die infamste Weise der Verstand ausgetrieben worden ist" und "wir lieben dieses Land, aber wir hassen diesen Staat".

Tatsächlich fokussiert Bernhards Murau seinen Haß auf die Repräsentanten dieses Staats, die Politiker, die das "Volk" verdorben hätten. (In ganz ähnlicher Weise ist auch immer wieder vom Verbrechen der Mütter an den Neugeborenen die Rede.) Vaterland und Volk aber müssen irgendwann heil, gleichsam unschuldig wie Neugeborene, gewesen sein, denn Bernhard, der immer übertreibt, legt Murau keineswegs Worte in den Mund wie: Schon immer seien dieses Volk, diese Österreicher, dieser Staat gewesen, wie sie jetzt seien.

Er denkt in bestimmter Hinsicht historisch - und so entgeht ihm etwa auch nicht der Unterschied zwischen deutschem und italienischem Faschismus: "(...) in Italien ist doch alles anders, die Italiener haben sich bis jetzt weder vom Faschismus, noch vom Katholizismus auffressen lassen, im Gegensatz zu den Österreichern, die von diesen beiden Übeln längst aufgefressen sind."

Für die Schlußlösung des Buchs spricht allerdings, daß Murau vom Erbe seiner Eltern sich nicht einfach reinigt, um unbescholten und unbelastet weiterleben zu können - ganz im Sinne der Politiker und Manager, die nach den Zahlungen an die Überlebenden und die Nachkommen der Opfer zur Geschäftsordnung ihrer Unternehmen übergehen wollen. (Das Werk müßte sonst auch "Reinigung" und nicht "Auslöschung" heißen.) Ganz im Gegenteil: Murau zerstört sich selbst - und das Schreiben ist diese Selbstauslöschung: "Tatsächlich bin ich dabei, Wolfsegg und die Meinigen auseinanderzunehmen und zu zersetzen, sie zu vernichten, auszulöschen und nehme mich dabei selbst auseinander, zersetze m'ch, vernichte mich, lösche mich aus."

Und mit dem Ende seines Berichts stirbt folgerichtig auch sein Autor. Bernhard ahnt etwas vom beleidigenden Charakter der Schenkung, von der Unmöglichkeit, den Opfern etwas zurückzugeben - und sieht sich förmlich gezwungen, diese Schuld mit der inszenierten Selbstzerstörung seines epischen Subjekts zu sühnen. "Aber es ist mir immer klar gewesen, und in der letzten Zeit noch klarer geworden, daß dieser Bericht von mir gemacht werden muß (...)."

Nach dieser Auslöschung sucht der Autor Thomas Bernhard - um überhaupt weiterschreiben zu können - nach einer neuen Identität für sein episches Subjekt, und er findet sie im Judentum. Murau wird zu Eisenberg - das Judentum zum Sprachrohr Muraus.

Der Ort dieses Identitätswechsel ist naturgemäß das Theater: "Heldenplatz", Bernhards letztes Stück, zwei Jahre nach Veröffentlichung der "Auslöschung" zur Uraufführung gebracht, macht eine jüdische Familie zur Antithese von Wolfsegg. Statt der philosemitischen Zeichnung, die bei Eisenberg dominiert, nehmen die Bühnengestalten die Physiognomie von Bernhards monomanisch monologisierendem Super-Subjekt an. Die Familie gruppiert sich dabei um das Grab eines Physik-Professors, der 1938 emigrieren mußte und, ins Land zurückgekehrt, Selbstmord begangen hat, kurz bevor er das Land zum zweiten Mal verlassen hätte: "In Österreich Jude zu sein bedeutet immer / zum Tode verurteilt zu sein / die Leute mögen schreiben und reden was sie wollen / der Judenhaß ist die reinste die absolut unverfälschte Natur des Österreichers."

Diese Natur aber bleibt unbegriffen - und wird gerade darum zur Natur erklärt. Bernhard vermag die Menschen ohne nationale Identität nicht zu denken - und dies schlägt ihnen zum undurchdringlichen Unheil aus. Was den Antinationalen aus der radikalen Linken immer von denen unterstellt wird, die sich ans Nationale anpassen, daß sie nämlich den Nationalismus bloß umdrehen und mit anderen Vorzeichen versehen würden, trifft bei Bernhard wirklich zu. Der Vorgang, der die Individuen zu nationalen Subjekten und zu Antisemiten macht, ertstarrt bei ihm zur geschichtslosen Identität. Das Resultat löscht sein Gewordensein aus.

Die späte Identifikation mit dem Judentum im letzten Theaterstück und die Allegorisierung Wolfseggs im letzten großen Prosawerk haben denselben Effekt: Selbstreflexion wird verhindert. Murau trennt sich zwar nach dem Tod der Eltern von Wolfsegg, bewahrt aber seine Identität, seine Vorstellungen vom "betrogenen Volk" und "geliebten Vaterland"; es stimmt auch in dieser Hinsicht, was Irene Heidelberger-Leonard schreibt: Bernhard entzieht sich mit Muraus Tod einer notwendigen Auseinandersetzung.

Ähnlich wie angesichts der bereits geleisteten und noch zu leistenden Entschädigungszahlungen weiterhin beharrlich darüber geschwiegen wird, daß der Reichtum des Wirtschaftwunders in toto auf dem Massenmord aufgebaut worden ist, daß also nicht nur die namhaft zu machenden, jedoch meist bereits verstorbenen "Arisierer" und Zwangsarbeits-Nutznießer profitierten, sondern indirekt die ganze Gesellschaft, die über die Arisierung schwieg.

Ist Bernhards vielgerühmte "Übertreibungskunst" nichts anderes als die Kunst, das eigene Gewordensein und damit die Partizipation an der Kontinuität, am langen Schweigen über die Verbrechen, die er Wolfsegg nennt oder "Heldenplatz", auszublenden? Am naheliegendsten scheint dies in seinen autobiographischen Büchern, wo er ein totales Opfer konstruiert, das nahezu alle anderen Opfer in den Schatten stellt - und das heißt: verschweigt.

In der Ursache werden lediglich an einer Stelle "fremdländische" Zwangsarbeiter erwähnt, die in Salzburg die Luftschutzstollen "unter unmenschlichen Bedingungen" in die beiden Stadtberge getrieben haben. Im übrigen geht es jedoch um sein eigenes Leid - und dieses wie immer wieder zum Leid aller Landsleute verallgemeinert, wenn etwa vom "Bomben- oder Terrorangriff auf unsere Heimatstadt" die Rede ist oder von der Besatzungszeit - ein Schulbeispiel für das, was Adorno die "Schuldumkehr" nannte: "(... ) die Amerikaner beherrschten alles. Die Not ist in dieser Zeit eine noch viel größere gewesen (...). Die Stadt war voller Ratten. Die Sexualexzesse der Besatzungssoldaten verbreiteten unter der Bevölkerung Angst und Schrecken (...), nur wenige hatten den Mut und die Kraft, etwas gegen die allgemeine Verzweiflung zu tun. Die Erniedrigung und die auf diese Erniedrigung gefolgte beinahe völlige Vernichtung in jeder Beziehung waren zu total gewesen."

Bernhard war also doch ein veritabler Heimatdichter. Seine Texte sind durchtränkt von jenem heroisierten Selbstmitleid, das für Österreich oder Deutschland so symptomatisch ist. Überwunden hat er es vermutlich nur in den komischen Momenten seiner Theaterstücke; in der nicht-autobiographischen Prosa bringt er es zumindest auf Distanz. Zuletzt aber mündet die Hinwendung zum einst Verdrängten, den jüdischen Opfern, in eine falsche Identifikation, die wiederum jeden Gedanken an eine unbewußte Komplizität mit den Tätern auslöschen soll.

Eigentlich ist Bernhard darin nur an einem einzigen Punkt, in einem einzigen Satz reflexiv: "(...) die Wirklichkeit ist so schlimm / daß sie nicht beschrieben werden kann".