Spontaneistische Demagogie

"Über das Fernsehen" - Der Soziologe Pierre Bourdieu kritisiert die Allmacht der Medien

Wenn ein linker Intellektueller zum Medienstar wird, kann er sich sicher sein, daß er alsbald Ziel eines Backlashs wird. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu, bekannt für kämpferische Eingriffe in die französische Politik, ist gerade dem Vorwurf ausgesetzt, daß er als Akademiker, der in jeder Hinsicht abgesichert sei, sich nicht für Immigranten, Arbeits- und Obdachlose engagieren dürfe. Das dekretiert die Publizistin Jeanine Verdès-Leroux in einem Essay über Bourdieus "soziologischen Terrorismus".

So steindumm kann man dem 68jährigen nicht kommen. Kritik hat Bourdieu, mutmaßlicher Kandidat eines linken Bündnisses für die im nächsten Jahr bevorstehenden Europawahlen, sehr wohl verdient, allerdings differenziertere. Wer seine Texte liest, kann sich freuen über erhellende Beobachtungen und Analysen, die teilweise brillant niedergeschrieben sind, muß sich ein paar Seiten später wundern, daß einer wie er auf offene Türen zustürmt. Das zeigt auch der Band "Über das Fernsehen", der wie viele seiner letzten Bücher in Frankreich sechsstellige Verkaufszahlen erreicht hat.

Der Text basiert auf zwei Vorträgen, die in einem Kurs des Collège de France, wo Bourdieu seit 17 Jahren lehrt, fürs Fernsehen produziert wurden. Das mit den offenen Türen ist Bourdieu durchaus bewußt, und deshalb betont er eingangs, er wünsche sich, daß sein Text nicht verstanden werde als regressives Plädoyer für das von Kulturaristokraten nostalgisch verklärte, vermeintlich pädagogisch wertvolle Fernsehen von vorgestern. Von "einer wirklich demokratischen Nutzung der Massenmedien" habe nämlich damals ebensowenig die Rede sein können wie heute. Später ergänzt er, daß theoretisch, wenn also alles ganz, ganz anders gelaufen wäre, Fernsehen "ein hervorragendes Instrument direkter Demokratie hätte werden können".

In "Über das Fernsehen" beschreibt Bourdieu die Auswirkungen des Mediums und speziell der "Einschaltquotenmentalität" auf andere kulturelle und gesellschaftliche Bereiche. Zum Beispiel auf den übrigen Journalismus, aber auch auf die Inszenierung von Demonstrationen und die Präsentation wissenschaftlicher Institute. Seine Kernthese: Fernsehen sei eine große Gefahr für die "kulturelle Produktion" wie das "demokratische Leben".

Der Soziologe sah sich veranlaßt, Alarm zu schlagen, weil bei einem Großteil der Menschen das Weltbild nur noch auf den Fernseh-Nachrichten basiere, also auf fast nichts. Bourdieu kritisiert das abgeschlossene Universum von fernsehwürdigen Experten, die mit berechenbaren Statements immer Gewehr bei Fuß stehen, so daß die Redakteure sich gar nicht erst die Mühe machen müssen, nach jemandem zu suchen, der eine womöglich überraschende Position vertritt. Der interessanteste Gedanke des Buchs steht im zweiten Vortrag: Sowohl die Talkshows, die Kulturaristokraten so hassen, weil sich dort der Penner von nebenan enthüllen darf, als auch Rubriken, die in der "seriösen" Presse "freie Aussprache" und ähnlich heißen, seien ein Symptom des "Übergangs von einer Politik kultureller Aufklärung zu einer Art spontaneistischer Demagogie".

Negativ fällt dagegen auf, daß Bourdieu kapitalismuskritische Binsenweisheiten als besondere Erkenntnis verkauft: "Ich glaube sogar, daß das Hochspielen (...) von Taten und Untaten dieses oder jenes Moderators oder der exorbitanten Bezüge bestimmter Fernsehproduzenten insofern dazu beitragen kann, vom Wesentlichen abzulenken, als die Korruptheit von Personen jene strukturelle Korruptheit (...) maskiert, die über Mechanismen wie den Kampf um Marktanteile das gesamte Spiel beeinflußt (...)"

Zu leicht macht er es sich auch mit dem Print-Journalismus, dessen strukturelle Schwächen er zwar ausgezeichnet beschreibt. Aber daß immer mehr Redaktionen in dieser Welt des "kollektiven Zwangs" dem bizarr anmutenden Drang nachgeben, ihre Artikel danach auszurichten, was die Konkurrenz gemacht hat oder höchstwahrscheinlich machen wird; daß Journalisten heute besser ausgebildet sind als ihre Vorgänger in den sechziger Jahren, ihre Arbeit dafür aber immer uninteressanter wird - diese Entwicklung ist nicht allein dem Fernsehen anzulasten.

Erwähnenswert ist nicht zuletzt, daß hiesige Intellektuelle mit dem französischen Fernsehen, das Bourdieu zu seinen Reflexionen animiert hat, vielleicht sogar halbwegs zufrieden wären: Kabelprogramme spielen dort nur eine untergeordnete Rolle gegenüber den sechs terrestrisch zu empfangenden Sendern. Zu denen gehört auch Arte, dem Bourdieu allerdings "einen mehr oder weniger schmählichen Kompromiß mit den Anforderungen der Einschaltquote" meint vorwerfen zu müssen. Wie sich der TV-Markt in den beiden Ländern unterscheidet, zeigt das Interesse an den Arte-Themenabenden: In Deutschland sehen sie zwischen 230 000 und 360 000, in Frankreich dagegen zwischen 1,2 und 1,5 Millionen Menschen. Daß dort ein vergleichsweise intellektuellenfreundliches Klima herrscht, zeigt auch die Reaktion auf Bourdieus schmalen Band: Er sorgte monatelang für einen Schlagabtausch in allen Medien.

Pierre Bourdieu: Über das Fernsehen. Suhrkamp, Frankfurt/M. 1998, 140 S., DM 14,80