Stammtisch der Soziologen

Die Deutsche Gesellschaft für Soziologie traf sich in Freiburg unter dem Kongreßmotto "Grenzenlose Gesellschaft?".

"Grenzenlose Gesellschaft?" lautete die Leitfrage des diesjährigen Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Freiburg. Alle zwei Jahre, wenn die deutschen SozialwissenschaftlerInnen sich treffen, wählt der Vorstand ein Motto, das zum einen Stichworte aktueller öffentlicher Debatten aufgreift, das aber zugleich den SoziologInnen erlaubt, ihre laufenden Debatten ungestört weiterzuführen. Auch in Freiburg, wo sich brave Zahlenhuber einerseits, auf Originalität bedachte Redner andererseits versammelten, präsentierte sich die Disziplin als eine Wissenschaft, die sich am liebsten auf sich selbst bezieht. Das Thema Migration spielte für die deutschen Soziologen keine Rolle.

Diskutiert wurde dagegen das "Verhältnis von Individuum und Gesellschaft", das die deutsche Soziologie seit ihren Anfängen zu Beginn unseres Jahrhunderts immer wieder gerne stellt. Im Vorfeld des diesjährigen Kongresses hatte es fast nach einer Kontroverse ausgesehen. Im Vorprogramm der Ankündigung von Plenum II war die These zu lesen: "Die Fixierung und Betonung der eigenen Individualität der Menschen scheint in den 90er Jahren am Höhepunkt ihrer Dynamik angelangt zu sein."

Nur zwei Seiten weiter findet sich dazu die Gegenthese für das Plenum VII: "Trotz anhaltender Individualisierung kann von totaler Isolierung der Menschen keine Rede sein, bilden sich doch nachweisbar neue Milieus." Die erste These ist die der sogenannten "Individualisierungstheoretiker". Sie stellen fest, daß allenthalben alte gesellschaftliche Traditionen und soziale Einheiten wie Klassen und Familien sich auflösen. Der (post-) moderne Mensch wird in kein festes Gefüge mehr hineingeboren, das ihm vorschreibt, wie er zu leben hat. Statt dessen kann er unter diversen Lebensentwürfen und Lebenswelten frei wählen.

Einen "Existenz-Bastler" nennt der Dortmunder Soziologe Roland Hitzler diesen Menschen, der sich nur nach sich selbst richtet. Was aber keinen Einzelkämpfer aus ihm macht: Auch dieser Mensch, sagte Hitzler in seinem Vortrag, sei auf der Suche nach Gemeinschaft, nach "Gesinnungsfreunden", mit denen er dann eine "Teilzeitgesellungsform" bildet.

Viel konkreter wurde Hitzler in seinem Freiburger Vortrag nicht, aber das brauchte er auch nicht. Wenn er auf einem Kongreß auftritt - mit Glatze und kurzgeschorener Mitarbeiterin -, dann wissen die Kundigen, wovon er spricht: Er ist bekannt dafür, daß er schon mal - korrekt gekleidet - auf Techno-Raves mittanzt. Da findet er seine "posttraditionelle Gemeinschaft" mit den "Kumpanen seiner Neigungen".

Auch wenn die Soziologiekongresse schon seit einiger Zeit nicht mehr "Soziologentage" heißen - die rein männliche Form wurde vom Verband abgeschafft -, so sind sie trotzdem stets ein Schaulaufen von halbprominenten Männern wie Hitzler. Die ganz Großen des Faches wie Niklas Luhmann oder Ulrich Beck entziehen sich den Niederungen der Diskussion mit Publikum (nur Jürgen Habermas diskutierte in Freiburg mit, in einer sogenannten "Ad-Hoc-Gruppe", über sein vor 30 Jahren erschienenes Buch "Erkenntnis und Interesse"). Die etwas weniger Prominenten produzieren sich dagegen ganz gerne vor der Fachöffentlichkeit.

Ein solcher Halbstar ist auch der Frankfurter Karl-Otto Hondrich. Seine Masche besteht darin, einfach das Gegenteil von dem zu behaupten, was gerade diskutiert wird. Auf der Veranstaltung zum Thema "Zukunft der Arbeit", das allgemeine Ratlosigkeit der Wissenschaftler und der dazugeladenen Gewerkschafter offenbarte, plädierte Hondrich dafür, statt über Arbeit doch lieber über die Aufgaben zu reden, die es etwa im sozialen Bereich zu erledigen gelte. Damit hätten wir dann schon Beschäftigung genug.

Im Plenum zur Individualisierung gab der Frankfurter den Gegenpart zu Hitzler. Hondrichs These in Kurzform: Auch wenn das Individuum sich in die Welt aufmacht, so bleibt doch die Gemeinschaft, aus der es kommt, sein wichtigster Halt. Im Notfall kann es sich auf die Familie stützen, im Ausland bezieht es seine Identität aus dem Herkunftsland. Nicht die frei gewählten Gemeinschaften seien wichtig, sondern die, in welche das Individuum hineingeboren wird und an die es unbewußt und gefühlsmäßig gebunden sei.

Hondrichs Sichtweise gegen die Hitzlers, eine so sinnvoll wie die andere. Theoretiker wie diese sind eben individualisierte Soziologen, die sich frei für eine These entscheiden und sich mit ihr gegen die anderen Individualisten abgrenzen. Es gibt aber auch Traditionalisten in der Soziologie, die sich noch an Gemeinschaften gebunden fühlen: Diejenigen nämlich, die als empirische Forscher sich an das überkommene Regelwerk der Statistikergemeinschaft halten.

Die Bielefelderin Susanne Karstedt führte vor, wie sie aus Befragungen in 39 Ländern Indikatoren gewann, die diese Länder als "individualistische" (meist die westlichen) oder "kollektivistische" (meist die asiatischen) einzustufen erlauben. Dann verglich sie ihre Indikatoren mit den Mordraten der Länder und fand heraus, daß die nicht-individualistischen Länder ein höheres "Gewaltniveau" aufweisen. Erstaunlich, aber nicht sehr erhellend, denn erklären konnte die Empirikerin ihren Befund nicht.

Redner, die derart mit Statistiken hantieren, langweilen sogar einen Soziologiekongreß. Unterhalten fühlten sich die Wissenschaftler dagegen von den Geschichten, die der Berliner Kai Brauer erzählte. Am Beispiel eines US-amerikanischen und eines ostdeutschen Dorfes (mit Dias) zeigte er, wie Gemeinschaftsbildung von sozialen Bedingungen abhängt.

In "Pigsburg" (Achtung, Deckname!) wetteifern zwei Familiencliquen beim Bau eines Altenheims und eines Gemeindezentrums darum, wer sich mit höheren Spenden höheres Prestige verschaffen kann. In "Tranlin" dagegen will niemand mehr Gemeindearbeit leisten, weil sie nicht bezahlt ist. Ob sich Gemeinschaften bilden oder nicht, ist also keine Frage sozialer Trends, sondern konkreter Situationen.

Auch ein Vortrag wie der von Marlis Buchmann und Manuel Eisner aus Zürich, die ihre Inhaltsanalyse von 80 Heiratsanzeigen in hübsch bunte Computerbilder überführten, machte das Publikum kurzfristig zur Genußgemeinschaft. Buchmann und Eisner gehen schon seit einigen Jahren mit ihren Annoncen auf Tour: Je nach Kongreßthema holen sie in San Francisco etwas anderes aus ihrem Material heraus als in Dresden. In Freiburg wiesen sie nach, daß sich in ihren Anzeigen die Heiratswilligen früher vor allem als fleißige Arbeitnehmer präsentierten, während es heute vor allem darauf ankommt, was sie in ihrer Freizeit tun. Ein Ergebnis, das man sich auch vorher hätte denken können.

Spannend wird es in der Soziologie immer erst dann, wenn die Verbindung zwischen Empirie und Theorie hergestellt wird. Gebannt lauschte das Auditorium dem Vortrag der beiden Freiburger Soziologinnen Cornelia Koppetsch und Maja Maier. Ihr Thema: Der auch in der Soziologie weitverbreitete Glaube an eine zunehmende Gleichheit von Männern und Frauen in ihren Paarbeziehungen. Streng in dunklen Jacketts auftretend, erläuterten die beiden Wissenschaftlerinnen, warum das Gegenteil der Fall ist: Partnerschaften beruhen zumeist auf der Ungleichheit der Geschlechter.

Das Modell der "Liebesehe" sieht die Frau als Expertin für alle Gefühle und weist ihr die Aufgabe zu, zu Hause eine familiäre Atmosphäre für sich, den Mann und die Kinder zu schaffen. Der Patriarchalismus der Unterschichten trennt die Sphären von Mann und Frau völlig und festigt sie durch körperliche Rituale (z.B. das Schminken der Frauen, das Trinken der Männer). Nur in der gebildeten Mittelschicht wird ein "Diskurs der Gleichberechtigung" gepflegt, und auch der verhindert nicht, daß in der Praxis Hausarbeit und Erziehung nicht von beiden geleistet werden.

Die beiden Wissenschaftlerinnen verbanden brillant genaue empirische Befragung und scharfe theoretische Analyse, das Konkrete (Familie) und das Allgemeine (Gesellschaft).

In der Fülle der Themen, von denen man nicht weiß, ob man darüber lachen soll ("Nichts tun. Eine Soziologie des Fahrstuhl-Fahrens") oder ob sie nicht doch wichtig sind ("Soziale Netzwerkstruktur und die Zusammenhänge zwischen sozialer Schicht und Gesundheit"), zeigte sich eine Gesellschaftswissenschaft zwischen ignoranter Selbstbezogenheit von Methodendiskussionen und großspuriger Trend-Besserwisserei, zwischen Verwaltungsdatenhuberei und feuilletonistischer Deutung.

Bei einer Gelegenheit dockte der Kongreß auch an die Art Diskussion an, die in der linksgebildeten Szene üblich ist: das theoretisierende Kneipengespräch. Die "Jackson Pollock Bar" unter dem Stadttheater, in der sich allabendlich die Kulturintelligenz Freiburgs trifft, war bei der öffentlichen Veranstaltung "Politik des Vergnügens" überfüllt. Thema waren die Cultural Studies, jene soziologische Forschungsrichtung aus Großbritannien, die sich der Populärkultur beschäftigt.

Klassisch akademisch startete die Veranstaltung mit Referaten darüber, wie häufig Kinder in verschiedenen Ländern Computerspiele spielen, und über 30 Jahre Theoriegeschichte der Cultural Studies. Erst durch zwei Journalisten konnte die Debatte belebt werden; Mark Terkessidis (Spex) sprach über Techno-Kultur und betonte, es sei keine widerspenstige Jugendkultur, wie noch die vorherigen von den Rock'n' Rollern bis zu den Hippies, sondern ganz im Gegenteil ein Teil der "Hegemonialkultur", eine Einübung der Werte der Kontrollgesellschaft und des heutigen Arbeitslebens, das vom einzelnen verlangte, "fit for fun" zu sein. Jürgen Busche, Chefredakteur der Freiburger Badischen Zeitung, widersprach heftig. Seine Abgrenzung einer "Hochkultur" der Museen und Theater von einer "Pseudokultur" der Märkte mißfiel Mitdiskutanten und großen Teilen des Publikums.

Es folgte eine lange Diskussion über den Wert und Unwert der einen und der anderen Kultur, in der sich die mit Theoriebruchstücken und Ad-Hoc-Beispielen geführte Diskussion munter im Kreise drehte und in dieser Form in jeder Studentenkneipe stattfindet. Und so viel anders war der Kongreß in der Universität dann auch wieder nicht.