BGH spricht Polizisten im Fall Neß frei

Esprit de corps

Mai 1994: Dem Journalisten Oliver Neß verdrehen Polizeibeamte den Fuß, bis die Bänder reißen, und dreschen polizeigeschickt auf ihn ein. Warum? Oliver Neß hatte berufsgemäß eine Demonstration gegen den Auftritt Jörg Haiders beobachtet. Dem Anschein nach gleichermaßen von Berufs wegen hatten ihn Polizisten als "Störer" erkannt. Und solche "Störer" werden polizeilich notfalls oder auch ohne Not gewaltsam "entstört". Die Folgen hat der störende Bürger zu tragen. Versteht sich. Man nennt das bundesdeutsch offiziell mit stolzgewölbter Brust: Rechtsstaat. Und ein Bürger (oder eine -in) stört fast immer, wenn er nicht regierungsamtlich demonstriert oder polizeilich beobachtet.

Oliver Neß hat sich gerichtlich zur Wehr gesetzt. Er war in seinen Bürgerrechten und in seinem Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit zu sehr verletzt worden. Lange zogen sich die diversen Prozesse hin. Bis ins Jahr 1998. Von wenigstens zehn Beteiligten verurteilte das Hamburger Landgericht zwei Polizisten schließlich zu Bagatellstrafen. Nun hat der Bundesgerichtshof (BGH) der Revisionsklage der beiden Beamten stattgegeben. Er hat sie am Freitag vergangener Woche schlicht freigesprochen. Weil angeblich doch so viel zweifelhaft geblieben sei.

Oliver Neß aber bewegt, immer noch physisch und psychisch belastet, mühsam seinen Fuß. Er meint, aus eigener Erfahrung belehrt, als engagierter Bürger und Journalist habe man im deutschen Rechtsstaat nur geringe Chancen.

Was bleibt nun nach dieser Polizei-Bürger-Geschichte? Am wichtigsten: Wenn sich eine Bürgerin - bitte immer entsprechend die männliche oder weibliche Form mitdenken - gegen die staatliche Exekutive vergeht, geht sie rechtsstaatlich kein Risiko ein. Sie wird klar und eindeutig verurteilt. Alle Strafrechtsparagraphen sind staatsichernd gerichtet. Wenn einer Bürgerin jedoch von der Exekutive Gewalt und Unrecht geschieht, dann steht ihr gleicherweise der Gerichtsweg offen. Indes: Sie muß schon Glück haben und grundrechtsversierte Richter finden, wenn sie ihr Recht finden soll.

Das hat vier hauptsächliche Gründe. Zum ersten: Wenn Bürgeraussage gegen Polizeiaussage steht, hat in der Regel die Polizei die Wahrnehmung für sich. Jeder Polizist wird von seinen Kollegen gedeckt. Der esprit de corps funktioniert. Die Institution des staatlichen Gewaltmonopols bezeugt auch ihr Nahezu-Wahrheitsmonopol.

Zum zweiten: Die Polizei spielt sich als Herrin der Information auf. Sie interveniert, hält Informationen zurück oder sortiert sie. Gerade dort, wo die Polizei selbst beklagt wird, tritt sie auf, als könne nur sie verläßliche Informationen liefern.

Zum dritten: Die neuen Polizeigesetze kommen dem unbeschränkten Ermessen der Polizei im Einsatz ihrer Mittel weit entgegen. Darum kann nach Gusto geknüppelt und fußbändergezerrt werden. Hauptsache, die Polizei hält es in der betreffenden Situation für opportun.

Zum vierten: Die Gewaltenteilung wird gerade im Umkreis sogenannter Innerer Sicherheit massiv unterlaufen. Die Staatsanwaltschaft wird zum Büttel der Exekutive. Und die Gerichte haben meist volles Verständnis dafür, daß bürgerrechtliche Späne abfallen, wo polizeilich gehobelt wird.

Darum hat der Freispruch des BGH System im Sinne eines vor- oder nachdemokratischen Rechtsstaatsverständnisses. Darum kann der doppelt verletzte Oliver Neß als zu Recht Klagender schließlich selbst Nahezu-Angeklagter werden. Hat er nicht polizei-"objektiv" gestört? Durfte die Polizei nicht anläßlich demonstrierender Bürger Gewalt anwenden - Tränengas versprühen und handgreiflich werden?

Das Urteil ist in seiner bis jetzt kenntlichen Begründung hanebüchen. Allerdings wäre auch die bagatellartige Verurteilung der beiden Polizisten unzureichend gewesen. Vor allem aber steht die Polizei als Institution und die Art ihrer politisch legitimierten Einsatzformen zur Disposition. Also ist auch die "rotgrüne" Regierung in Hamburg gefordert.

Und: Journalistinnen und Bürger dürfen die persönlich verständliche Folgerung von Oliver Neß, bei der er hoffentlich nicht stehenbleibt, nicht ziehen. Sie müssen beobachten, gegeninformieren und sich demonstrativ wehren. Sonst würde der Skandal der Justiz, des Gesetzgebers und der politisch Verantwortlichen zum bürgerlichen. Unruhe ist die erste Bürgerpflicht.

Unser Autor ist Vorsitzender des Komitees für Grundrechte und Demokratie e.V. und Professor für Politologie an der FU Berlin