Silvester in der Staatseinrichtung

Back in the G.D.R.

"Die Messen sind, um es einmal salopp zu sagen, gelesen", sagte, zwischen 8 und 9 Uhr am 2. Januar des neuen Jahres, die Sprecherin der MDR-Morgensendung "Figaro" und resümierte damit sehr salopp und punktgenau, was die letzten fünf Tage im radiophonischen Gespensterstadl dieses Senders auf mich niedergegangen war.

Ich saß fest im Elbsandsteingebirge, das auch "Sächsische Schweiz" genannt wird, unterhalb von Dresden, in einem zur Ferienwohnung ausgebauten Besenkeller, und wartete auf das Ende der DDR bzw. freute mich halbherzig, daß sie, die DDR, hier unten noch ein kleines Reservat, ein Residuum, eine Art Residenz gefunden zu haben schien. Alles komplett: Die Spanferkel-Schrankwand, "Sat-TV" aus Holz und ohne Ton, Fenster mit Gardinen aus Plaste und Elaste, drei Lagen Teppich, die Brigade-Couch, der Brigadefeier-Couchtisch, das Bett mit dreiteiliger und über Nacht irrsinnig auseinanderdriftender Matratze, Zimmerpflanzen im Hydrotopf und das Radio, ein "stern-Radiorecorder", ebenfalls aus Holz, in dem immer wieder "The Paradise Is Here" erklang. Name des Ortes: Pfaffendorf. Schöne alte Welt.

Die Leute waren nett, trugen Messerformschnitt, kamen überall im Kollektiv vor, sächselten ohne Argwohn. Der Konsum im benachbarten Königstein, der jetzt Eurospar heißt, hatte jede Menge Tütensuppen, abgepackten Käse, Worscht-Pakeede, Letscho im Glas, Postkarten mit EVP 0,25 Mark. Im Zeitungsständer Der Eulenspiegel, Das Magazin, Super Illu. Großes Porträt des Dresdner Hobbyhistorikers Hans Hundhausen, der eine Chronik des ostdeutschen Elektromaschinenbaus verfaßte, in der Sächsischen Zeitung. Bild Sachsen mit einer Seite Auszügen aus Eingaben an Erich Honecker. Im "Haus des Schuhs" gegenüber der Kreissparkasse gab's echte Filzpantoffel. Grauer Filz mit einer grünschwarzen Kordel am Saum, EVP 32,80.

Den Untergang seines "lieben Vaterlandes", der DDR, hat Peter Hacks in konkret klagend besungen. "Fremd ist", schrieb er, "die Sonne, die mir heute leuchtet. / Und bloß im sich versenkenden Gemüte / Seh ich die Landschaft, die hier vormals blühte. / Nicht immer bleibt mein Auge unbefeuchtet. / Man weint um Hellas. Sonst geschieht es selten, / Daß einer Staatseinrichtung Tränen gelten."

Mag sein. Doch kann ich dem Epitaph schlecht beistimmen. Bis jetzt habe ich noch jedes Jahr Silvester in der DDR verbracht, zumeist auf dem Land, wo Wunderkerzen, die 9. Sinfonie und Nackensteak au four noch etwas bedeuten.

Pfaffendorf, gegenüber der Festung Königstein gelegen, im Rücken den Kurort Gohrisch, Papstdorf, Kleinhennersdorf und Cunnersdorf. Ringsum Sandsteinfelsen mit Eisenringen wie gepiercte Schwanzvergleiche, Kletterer hingen dran, übernachteten in Höhlen, mit Feuer, immerhin. Die Silvesternacht war kalt wie der Mond, der wie bei Caspar David Friedrich am Himmel hing. Feueraugen flackerten in den schwarzen Felsen. Ich aber schritt umher mit meinem neu erworbenen Didgeridoo, dem riesenhaften Blasinstrument der Aborigines, das in der DDR sicherlich verboten war - verboten ist. Und übte, den eigenen Schatten, den der Mond auf den Feldweg warf, nicht aus den Augen lassend, während das Jahr wechselte, Blasen.

Sehr komisch, aber wahr.