Forscher werden Unternehmer
Seit Beginn der neunziger Jahre boomt die gentechnologische Forschung in der Bundesrepublik. Besonders im Osten: Die Region Berlin-Brandenburg ist seitdem mit inzwischen über 250 Anlagen zum größten Standort für Gen- und Biotechnologie avanciert. Weit mehr als die Hälfte der hier ansässigen gentechnologischen Unternehmen sind erst nach 1990 gegründet worden.
Um "Deutschland bis zum Jahr 2000 zur Nummer eins in der Biotechnologie in Europa zu machen", schrieb der damalige Forschungsminister Jürgen Rüttgers (CDU) 1996 den "Bio-Regio-Wettbewerb" aus. Ambitioniertes Ziel des Projekts: die Kluft zwischen universitärer Grundlagenforschung und kommerzieller Verwertung zu verringern.
Obwohl Berlin-Brandenburg damals nicht zu den drei Siegerregionen von "BioRegio" zählte, schafften es die Landespolitiker, daß nun auch die Universitäten zu dem Gründungs-Boom beitrugen. So wurden allein an der Freien Universität (FU) Berlin innerhalb eines Jahres drei gentechnologisch arbeitende Unternehmen gegründet, sogenannte "spinouts".
Hinzu kommt, daß sich die Bundesrepublik seit 1995 mit dem Deutschen Humangenomprojekt (DHGP) im internationalen Genomforschungs-Verbund organisiert hat. Ziel der Human Genome Organization (Hugo) - 1988 in den USA gegründet - ist, bis 2003 das gesamte menschliche Erbmaterial zu entschlüsseln.
Seit Beginn dieses Jahres ist die FU Berlin auch offiziell an der ökonomischen Verwertung des menschlichen Erbgutes beteiligt. So hat die sogenannte Proteinstrukturfabrik am 1. Januar ihren Betrieb aufgenommen - gegründet wurde damit ein universitäres Genomforschungs-Projekt mit kommerzieller Ausrichtung, das an das bundesweite Humangenomprogramm anschließt. Dieses ermöglicht es bereits heute, mit hoher Geschwindigkeit Gensequenzen zu liefern.
Über die Funktion der Genprodukte selbst - der Proteine - ist jedoch noch relativ wenig bekannt. Deshalb, so der Interdiziplinäre Forschungverbund (IFV) an der FU - Initiator des Projekts -, soll es Aufgabe der Fabrik sein, diese Lücke zu schließen und damit die in der Humangenomforschung gewonnenen Daten kommerziell nutzbar zu machen. Dafür sollen die "Infrastruktur der Proteinstrukturfabrik und die in ihr erzeugten Daten (...) der pharmazeutischen Industrie zur Nutzung angeboten" werden.
Getragen wird das Projekt von der Elite der bundesdeutschen Genforschung - einem Team bestehend aus Arbeitsgruppen der drei Berliner Universitäten, des Max-Delbrück-Centrums für Molekulare Medizin, dem Ressourcenzentrum des Deutschen Humangenomprojekts, dem Max-Planck-Institut für Molekulare Genetik, dem Forschungsinstitut für Molekulare Pharmakologie sowie kleinen und mittleren Biotechnologiefirmen aus dem Raum Berlin-Brandenburg. Die Bundesmittel in Höhe von 30 Millionen Mark reichen fast heran an die - verpaßte - Siegesprämie aus dem "Bio-Regio-Wettbewerb".
Mit dem Ziel, die gentechnologische Forschung und Produktion in Berlin-Brandenburg zu vernetzen, bereitet der Interdisziplinäre Forschungsverbund "RNA-Technologien" derzeit das umfassende "RNA-Netzwerk Berlin-Brandenburg" vor. Hier sollen Forschungseinrichtungen und Bio-Firmen an Projekten mit einem Volumen von 120 Millionen Mark zusammen arbeiten. Um "Aufgaben von öffentlichem Interesse mittels Organisationsformen durchführen zu lassen, die sich an privatwirtschaftlichen Modellen orientieren", trägt die Rina Netzwerk RNA-Technologien e.V. die "strategische Gesamtverantwortung". Federführend auch hier: die FU.
Während der Direktor des Instituts für Biochemie, Professor Volker A. Erdmann seine Erkenntnisse auf dem Gebiet der RNA-Forschung in das Projekt einbringt, um neuartige medizinische Wirkstoffe entwickeln zu können, hat die Rina GmbH als "schlagkräftige und flexible Operationseinheit" das Finanzmanagement, die inhaltlich-thematische Projektsteuerung und die Vermarktung von Patentergebnissen übernommen. An der Finanzierung beteiligen sich unter anderen die Firmen Boehringer Mannheim sowie - allgegenwärtig - die Schering AG.
Die Verwertung der Forschungsergebnisse soll jedoch nicht allein institutsfremden Unternehmen überlassen werden. So gründete das Institut für Biochemie der FU im Oktober 1997 die Noxxon Pharma AG, um die im Rina-Netzwerk entwickelten neuen Wirkstoffe effektiver verwerten zu können - insbesondere auf dem Gebiet der Schmerzmittelherstellung. Eine Kooperation des Unternehmens mit dem Aachener Pharmahersteller Grünenthal trägt denn auch den passenden Namen "Forschungsallianz gegen Schmerz". Weiteres Forschungsgebiet der Noxxon AG: die sogenannte Spiegelmer-Technologie, auf deren Grundlage neue Wirkstoffe entwickelt werden gegen RNA-Verbindungen, die vom Organismus nicht abgebaut werden können.
Die entscheidende Vorarbeit hierzu leiste Dr. Jens Peter Fürste, der sowohl als Wissenschaftler am Institut für Biochemie der FU sowie als Vorstandsmitglied der Noxxon arbeitet. Auch Erdmann ist in dem Unternehmen untergebracht - als Vorsitzender der wissenschaftlichen Beratungskommission.
Als drittes Beispiel für die Überlappung von wissenschaftlicher Forschung und ökonomischer Verwertung kann die Tätigkeit von Professor Burghardt Wittig angeführt werden. Sein Schwerpunkt am Institut für Molekularbiologie und Bioinformatik der FU, Fachbereich Humanmedizin, ist die somatische Gentherapie. Bereits 1994 machte er mit den ersten gentherapeutischen Versuche in der Bundesrepublik Schlagzeilen. Neben seiner Forschungstätigkeit ist Wittig im Vorstand der 1998 gegründeten MoloGen AG verantwortlich für Forschung und Entwicklung.
Die MoloGen AG ist die erste börsennotierte deutsche Start-up-Firma aus dem Bereich der Biotechnologie und arbeitet unter anderem an der Entwicklung von Methoden und Produkten für gentherapeutische Experimente und Impfstoffe.
"Entscheidend für das Konzept der MoloGen" - so die Selbstbeschreibung in einem Werbeprospekt - "ist ihre enge Kooperation mit der Freien Universität Berlin". Die zeigt sich darüber hinaus auch in der Anschrift: Sie ist identisch mit der Abteilung Wittigs im FU-Institut für Molekularbiologie und Biochemie.
Neben der ökonomischen Verwertung der Ergebnisse - die den Eindruck erweckt, die FU werde von einer öffentlichen Institution in ein privatwirtschaftliches Unternehmen umgewandelt - bemüht sich die FU jedoch auch um die kulturelle Vermittlung ihrer Forschung: So stand im Sommersemester 1998 eine Ringvorlesung mit dem Titel "Genforschung und Gentechnik - Ängste und Hoffnungen" auf dem Programm.