Ran an die Strukturen!

Die Anti-Atom-Bewegung sollte sich nicht auf die Castor-Transporte kaprizieren.

"Wieso mißachtet eine Regierung die Versprechen, für die sie gewählt wurde?" fragte zu Beginn der Energiekonsensgespräche zwischen Regierung und Atomindustrie ein "Bündnis von AtomkraftgegnerInnen", das ein Büro der Bündnisgrünen in Berlin besetzt hatte. Die Antwort fand sich ein paar Tage später in der Frankfurter Rundschau: Nach einem Kursgewinn von 14 Prozent kürte die Zeitung die Aktie des AKW-Betreibers RWE zur "Aktie des Tages".

Der Erfolg an der Börse ist zweifellos der Rücknahme der Atomgesetznovelle durch die Regierung geschuldet. Im strittigsten Punkt setzten sich die Betreiber durch: Die Wiederaufarbeitung deutschen Atommülls im Ausland wird vorerst als der vom Atomgesetz verlangte Entsorgungsnachweis gewertet. Die anfallenden Transporte zu und von den Wiederaufarbeitungsanlagen in Großbritannien und Frankreich dürften daher wieder aufgenommen werden. Grund genug für die Anti-Atom-Bewegung, aus der Blockade eben dieser Transporte Kapital zu schlagen.

Doch weit gefehlt. Die Fixierung auf die Atommülltransporte zeigt nur ein weiteres Mal die nationale Borniertheit der Anti-Atom-Bewegung, die zu einer Anti-Castor-Bewegung zu verkommen scheint. Die BefürworterInnen einer solchen Blockade-Strategie gehen davon aus, daß es zu Entsorgungsengpässen in der Zeit zwischen dem Verbot der Wiederaufarbeitung und dem Bau der im rot-grünen Koalitionsvertrag vorgesehenen dezentralen Zwischenlager kommen wird. Folglich, so die Logik der Castor-GegnerInnen, müßten dann wieder Atommülltransporte in die bereits bestehenden Atommüll-Lager Ahaus und Gorleben beginnen.

Selbst, wenn es dazu kommen sollte, geht der Anti-Castor-Protest an den eigentlichen Strukturen vorbei. So deckte Greenpeace kürzlich auf, daß die deutschen AKW-Betreiber bereits mit ihren russischen Kollegen über mögliche Transporte abgebrannter Brennelemente nach Rußland verhandeln. Eine solche Verklappung deutschen Atommülls in Staaten, in denen der Widerstand gegen Atomtechnologie kaum ins Gewicht fällt und die darüber hinaus die deutschen Devisen gut gebrauchen können, ist nach dem Atomgesetz bislang zwar verboten, dürfte in den nächsten Monaten jedoch an Plausibilität gewinnen.

Für die hartgesottenen und unverbesserlichen "SofortaussteigerInnen" gibt es nur einen Weg aus der momentanen Misere: Weg von den Massenveranstaltungen als Protestform, weg von den Massenmedien als Multiplikatoren. Doch wohin? Das Problem des Atommülls bleibt schließlich bestehen.

Einen Angriffspunkt müßte deshalb der - der Anti-Atom-Bewegung seit jeher verhaßte - Siemens-Konzern darstellen. Dieser engagiert sich seit längerem jenseits der Oder-Neiße-Grenze und versucht dort, mit der Sanierung maroder Reaktoren den Einstieg in das osteuropäische Absatzgeschäft zu schaffen. Ebenso ist Siemens am Bau des neuen europäischen Druckwasserreaktors (EPR) beteiligt. Ganz im Trend der Zeit unterhält der Konzern auch eine neurechte Stiftung, die Carl-Friedrich-von-Siemens-Stiftung. Des weiteren weigert sich Siemens bis heute, Entschädigungen an die ehemaligen ZwangsarbeiterInnen während des Nationalsozialismus zu zahlen. Doch um dies zu thematisieren, müßte die Anti-Atom-Bewegung erst einmal von ihrem Lamento, "bloß Opfer der Großindustrie" zu sein, Abschied nehmen. Es stellt sich die Frage, ob dies in einer Zeit der Walserisierung der Köpfe nicht längst auf der Tagesordnung stehen sollte.

Eine Abkehr vom Protest gegen die Transporte und medienwirksamen Massenveranstaltungen könnte die Anti-Atom-Bewegung zu einem weiteren Punkt führen, der zwar nicht Bestandteil der Konsensgespräche war - bei dem es aber an die Substanz der Atomkonzerne geht: die Urangewinnung und -anreicherung. Die Risiken der nach 1990 in Deutschland eingestellten Urangewinnung tragen heute die Ureinwohner Kanadas und Australiens. Die dortigen Minen beliefern unter anderem die Urananreicherungsanlage in Gronau. Für die hatte die rot-grüne Landesregierung in Nordrhein-Westfalen erst Ende 1997 eine Kapazitätserhöhung von 1 000 auf 1 800 Tonnen Uran pro Jahr genehmigt. Kurz nach der Bundestagswahl beschloß sie eine Erweiterung auf 4 000 Tonnen pro Jahr sowie den Bau zweier weiterer Urantrennhallen.

Im Schatten möglicher Atomtransporte, um die sich die Rest-Bewegung bemüht, wird hier systematisch die Effektivität der atomaren Brennstoffspirale gesteigert. Also: Augen auf im Castor-Rausch!