Staat als Schutz

Ein kurdischer Nationalstaat würde den Schutz von Menschen gewährleisten, die bisher als "Bergtürken" verfolgt wurden.

Die kurdische Frage steht in der Bundesrepublik wieder auf der Tagesordnung: Einmal mehr erinnert sich die Politik an das "an sich berechtigte Anliegen" der kurdischen Bevölkerung. Nötig dafür waren mehrere Botschaftsbesetzungen, Hunderte von Festnahmen und vier erschossene Kurden.

Ein hoher Preis, den die KurdInnen weitgehend allein bezahlen müssen: Von einer deutschen Beteiligung an den Protesten war so gut wie nichts zu sehen. Dies ist nicht allein eine Folge politischer Schwäche der bundesrepublikanischen Linken. Den Ausschlag für die Einnahme der Zu-schauerInnenposition dürfte vielmehr die Kritik an einem nationalen Befreiungskampf gegeben haben, der sich die Erkämpfung nationaler Souveränität zum wesentlichen Ziel setzt und gesellschaftliche Veränderungen machtpolitischen Opportunitäten ausliefert.

Es gab verschiedene, meist gescheiterte Versuche, die Kritik an der Ideologie und Praxis der PKK zu formulieren. Entweder wurde diese Kritik als Schwächung des kurdischen Widerstands abgelehnt. Oder sie wurde mit einem radikalen Gestus vorgetragen, der die eigenen Kämpfe und Schwierigkeiten nicht zum Ausgangspunkt machte, sondern zum Verschwinden bringen sollte.

Die Kritik am Führerkult um Onkelchen Öcalan ist mehr als berechtigt. Es fällt schwer, in diesem Kult mehr zu erkennen als die Nutzbarmachung autoritärer Lebensrealitäten - für die gute Sache. Mit solchen Strukturen bekämpft man keineswegs den Feind effizient, sondern vor allem jede Hoffnung auf soziale Befreiung.

Allerdings beweist sich die Glaubwürdigkeit der Überzeugung, daß der Kampf gegen jede Form autoritärer und hierarchischer Gesellschaftlichkeit wesentlicher Bestandteil einer radikalen Veränderung sein muß, am allerwenigsten an einer messerscharfen Kritik der PKK. Wir müssen uns selbst fragen lassen, wie wir diese Überzeugung in unserem Widerstand erlebbar machen.

Die PKK macht keinen großen Hehl daraus, daß das Ziel ihres Befreiungskampfes ein eigener Nationalstaat ist. Vorhersehbar ist, daß die größten Veränderungen der Austausch der Machteliten und die Einführung des Kurdischen als Amtssprache sein werden. Wie die Besitzverhältnisse in diesem Kurdistan aussehen werden, wie die Entscheidungsbefugnisse in einem kurdischen Nationalstaat aussehen könnten - dazu liest man in den Erklärungen der PKK wenig.

Zwar geistert das Wort Sozialismus durch manche Erklärung, doch wie bedeutungslos das ist, machte die Ein-Mann-Politik des PKK-Führers Öcalan deutlich. Mit seinem Versuch, sich als kurdischer Arafat anzudienen, warf er die letzten Überreste eines rhetorisch eingeübten Antiimperialismus über Bord. So mutierte Deutschland vom Feind zum Freund des "kurdischen Volkes". Als hätte es sich bei den Repressalien gegen Kurden oder dem Verbot der PKK um bedauerliche Versehen gehandelt.

Um zu erkennen, worin sich das Erlangen einer nationalen Souveränität erschöpft, reicht es aus, sich die Entwicklungen der an die Macht gekommenen Befreiungsbewegungen von Vietnam über Algerien bis hin zu Palästina anzuschauen. Keine Frage, diese antikolonialen Kämpfe haben etwas verändert - am allerwenigsten jedoch bei jenen, die dafür mit ihrem Leben kämpften.

Das ist die eine Seite der "nationalen Frage": Man konstruiert über die Geschichte der Verfolgung ein homogenes Ganzes, das von den Verfolgern geschaffen wurde und nun von den Siegern - ein wenig ausgeschmückt - übernommen wird. Damit haben Verfolger und Sieger mehr gemeinsam als das neue "Staatsvolk".

Die andere Seite der "nationalen Frage" ist weitaus schwieriger zurückzuweisen. Historisch betrachtet schützt kein Nationalstaat vor Ausbeutung und Unterdrückung. Doch was es heißt, in dieser Welt staatenlos zu sein, haben viele jüdische Menschen über Jahrhunderte hinweg erlebt. Weder die "Proletarier aller Länder" noch der "internationale Klassenkampf" konnten und wollten jüdische Menschen vor Verfolgung und Vernichtung schützen. In der Staatsgründung Israels kommt die bittere Erkenntnis zum Tragen, daß das Leben jüdischer Menschen von den Herrschenden und Beherrschten gleichermaßen bedroht war und ist.

Die Menschen, die sich als Kurden begreifen oder für solche gehalten werden, sind seit Jahrzehnten der Verfolgung ausgesetzt - ob in der Türkei, im Irak oder Iran. Eine kurdische Staatlichkeit würde wahrscheinlich an kapitalistischen und patriarchalen Verhältnissen nicht viel ändern. Aber sie würde sicher eines gewährleisten: den Schutz von Menschen, die bisher als Kurden bzw. "Bergtürken" verfolgt wurden.

Damit ist noch lange nicht die Frage beantwortet, wie ein anti-nationaler Widerstand auszusehen hätte, der den Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung nicht in der Anerkennung einer sogenannten Volksidentität auflöst, sondern die radikale Umwälzung der sozialen Verhältnisse herbeiführen will. Die Glaubwürdigkeit eines solchen Bemühens mißt sich allerdings nicht an einer Kritik des kurdischen Nationalismus, sondern an der Umsetzung der eigenen Vorstellungen hier. Davon allerdings ist die antinationale Linke mindestens genauso weit entfernt wie die PKK.