Wie es sich gehört

Radikal, auch ohne "-ismen" - Die achtziger Jahre auf der 17. musik-biennale in Berlin

Seit 1993 thematisiert die im Zweijahresrhythmus stattfindende "musik-biennale berlin", ein Festival neuer Musik, das glücklicherweise aus der zusammengebrochenen DDR ins Nach-89er-Deutschland hinübergerettet werden konnte, jeweils ein Jahrzehnt der Musikgeschichte nach 1945 und konfrontiert dabei exemplarische Werke neuer Musik aus dem Westen mit solcher aus dem ehemaligen Ostblock.

Zum Abschluß dieser Retrospektive waren in diesem Jahr die achtziger Jahre an der Reihe, "eine Zeit", wie es im biennale-Journal einleitend heißt, "als die verbissen geführten ideologischen Auseinandersetzungen beiderseits der Mauer endgültig pluralistischen Konzeptionen gewichen waren, die wiederum die Gefahr der ästhetischen Beliebigkeit mit sich brachten".

Waltet in diesem Verdikt über das "Verbissene" und "Ideologische" nicht wieder einmal das bürgerliche Ressentiment gegen die "-ismen", die qua kollektivistisch-totalitärer Gesinnung den einzelnen auf Gefolgschaft einschwörten und dabei dessen Individualität und "Schöpferkraft" abwürgten? Es ist nicht zu leugnen: Kein Künstler, auch nicht der avantgardistische, verfügt über eine Direktschaltung zum Weltgeist; sich in sein Material zu versenken, um es zum Sprechen zu verhalten, nimmt ihm nichts und niemand ab und deswegen exponiert sich jedes dabei entstandene Kunstwerk dem Scheitern.

Man braucht also die bisweilen unfreiwillig komischen, bisweilen repressiven Züge solcher "Schulen" wie z.B. des aus den "Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik" hervorgegangenen "Serialismus", in der strukturalistische Ideologie und unangefochtener Fortschrittsoptimismus sich vereinten, gar nicht zu bestreiten, um darauf hinzuweisen, daß solche "-ismen" dennoch ihr sachliches Recht haben. Nicht nur sind sie in einer cliquenförmig organisierten Gesellschaft unvermeidlich; in ihnen nimmt das Moderne als unwiderstehlich Lockendes auch organisatorische Gestalt an und als Attraktionspunkte bilden sie jenen kollektiven Zug aus, von der die substantielle künstlerische Produktion des einzelnen notwendig zehrt, auch wenn er sich darüber keine Rechenschaft ablegt.

Das Ende der "-ismen" ist also durchaus zu bedauern, wenngleich sie, zwar als nicht erklärte, de facto dennoch fortexistieren. Die 17. musik-biennale hat dies einmal mehr deutlich gemacht, sowohl bei der (Wieder-)Aufführung von Werken aus den achtziger Jahren als auch bei den Uraufführungen. Der fundamentale Unterschied, was Experimentierlust und ästhetische Radikalität anbelangt, etwa zwischen Michael Oesterles uraufgeführtem dreisätzigen Orchesterwerk "Essence" - neoromantisch-illustrativer Quatsch von plakativer Machart: tirilierende Solo-Violine, einen singenden Vogel vorstellend, die vom massiven dröhnenden Orchester, irgendwie wohl die böse Welt, zum Schweigen gebracht wird - und etwa den verschiedenen auf der biennale gespielten Werken von Helmut Lachenmann erschließt sich nicht erst nachträglichem Räsonnement, sondern ist unmittelbar ohrenfällig.

Von Lachenmann wurden verschiedene Werke aufgeführt; am wenigsten überzeugte mich das 1988 entstandene kurze Orchesterstück "Tableau". Trotz, wie bei Lachenmann gewohnt, fein gearbeiteter musikalischer Faktur und überraschender Effekte - wie z.B. zwei im gesetzten Klangumfeld fremdartige tonale Akkorde- machte das Stück auf mich einen etwas unentschlossenen Eindruck.

Anders Lachenmanns "Harmonica" von 1981/83, eine Art "Musik für Orchester mit Solo-Tuba", die auf der biennale von Richard Nahatzki und dem SWR-Sinfonieorchester unter Hans Zender äußerst präzise und engagiert wiedergegeben wurde. "Harmonica" würde ich als eines der besten Orchesterwerke von Lachenmann bezeichnen: Der ungeheure Reichtum an Klangfarben verbindet sich aufs glücklichste mit beeindruckenden visuellen Effekten - in einer Solokadenz wird der Solist von drei Schlagzeugern, zwei davon im Konzertsaal postiert, die im periodischen Rhythmus mit Stöcken auf Notenpulte schlagen, sozusagen "in die Zange genommen" und einem überzeugenden formalen Aufbau.

Erwähnenswert auch die Aufführung von Luigi Nonos Streichquartett "Fragmente - Stille, An Diotima" (1979/80), das in einem der insgesamt drei Quartettabende vom Arditti String Quartet hervorragend realisiert wurde, sowie zwei seiner späten Orchesterwerke wie z.B. "A Carlo Scarpa architetto, ai suoi infiniti possibili" (1984).

Im sogenannten Spätstil Nonos, der durch Beschränkung musikalischer Mittel, fragile und leise Klänge sowie einen immer wieder durch lange Pausen durchbrochenen Formverlauf gekennzeichnet ist, erblickten und erblicken viele eine Abkehr vom politischen Engagement Nonos, Introversion und neue Innerlichkeit. Richtig ist freilich das Gegenteil: Als auf sich selbst zurückgeworfene Musik sind Nonos späte Werke wohl getreuere Reflexion der Gesellschaft und damit "politischer" als manche der früheren Bekenntniswerke. Nonos späte Stücke brechen mit dem emphatischen sinfonischen Gestus, in dem noch der fuchtelnde und sich überschreiende bürgerliche Volkstribun, nun auf links gewirkt, immer wieder unangenehm nachklingt.

Das ist anfangs auch das Problem von Friedrich Schenkers 1982 als Auftragswerk des DDR-Rundfunks entstandener Orchesterballade "Fanal Spanien" von 1982, die aber nach dem gepanzerten Anfangsteil durch enorme Klangphantasie besticht. An der politischen Implikation von Musik hält auch Mathias Spahlinger fest - allerdings nicht durch Auftrumpfen und Bekenntnis, sondern "indem sie die Chiffren bewußt macht, nach denen Wirklichkeit dechiffriert wird", wie er selber sagt. Spahlingers "inter-mezzo" für Klavier und Orchester von 1986 nannte er ein "concertato non concertabile": Nicht um die althergebrachte konzertante Virtuosität geht es hier - obwohl den Instrumenten die unerhörtesten Klänge abgewonnen werden - sondern um wechselnde Formen von Verständigung zwischen dem Solisten und dem Orchester, zwischen den einzelnen Gruppen und Spielern des Orchesters etc.

Herausragend auch "O Daddy" (1984) von Rolf Riehm (er war in den siebziger Jahren Mitglied des "Sogenannten linksradikalen Blasorchesters"), das sich auf die Verzweiflungstat eines 15-jährigen Jugendlichen bezieht, der im Italien der siebziger Jahre seinen Vater, einen Alkoholiker und Haustyrannen, erschoß. "O Daddy" ist ein spannungsgeladenes und in der gelungenen Kombination von Orchester und Tonbandzuspielungen geradezu beklemmende Wirkungen erzielendes Stück.

Auch von den Uraufführungen gibt es viel Positives zu berichten. Bemerkenswert die neuesten Streichquartett-Produktionen: das Quartett des Isländers Atli Ingolfsson, wirklich herausragend "ÖSi toutes les feuilles des arbres étaient des languesÖ" der kasachischen Komponistin Jamilia Jazylbekova, eine formal und klanglich sehr überzeugende Folge von Szenen unterschiedlicher musikalischer Dichte unter Verwendung ungewöhnlicher Spieltechniken. Mathias Pintschers "Dunkles Feld - Berückung", ein vierteiliges Orchesterstück, kokettiert zwar mit dem Espressivo-Gestus, hebt sich aber von den Gefühlsschinken, die andere so gerne zusammenräuchern, durch minutiös ausgehörte Klänge ab. Insbesondere der erste Abschnitt ist eine beeindruckende, von den dunklen Registern zu einem alptraumhaften Fortissimo sich steigernde Sequenz.

In "cinnabar", einem Kammermusikstück "für zwei Solisten, 7 Instrumente, Spieldosen und Dirigent", komponiert Rebecca Saunders mit einigen wenigen Gesten und raffinierten Klängen eine Musik, die, obwohl entwicklungslos, nichtsdestotrotz eine durchweg fesselndes Werk darstellt. Helmut Oehrings "Koma 1 - 3" ist der Versuch, eine "imaginär aus erschöpftem Schlaf geborene Musik" zu schaffen. Das Stück ist für 15 Instrumente geschrieben, davon zwei solistische Gitarristen, die zwischen E-Gitarre und traditionellem Instrument wechseln. Mit seinen jähen und unvermutet dreinfahrenden grellen Klängen sowie der subtilen Behandlung des Schlagzeugs und der Gitarren war Oehrings Stück eine der angenehmsten Erfahrungen auf der biennale.

Sollte der Eindruck trügen, daß viele jüngere Komponisten und Komponistinnen der ewigen Abgesänge auf die Avantgarde - mittlerweile auch schon ein alter Hut - überdrüssig sind? Und nunmehr ohne den Rückenwind durch organisierte "-ismen" einfach so radikal komponieren, wie sich das gehört? Dann bestünde Anlaß zu bescheidener Hoffnung.