Retter der Republik

Als sie fast vorbei waren, ist Jürgen Habermas doch noch etwas zur Walser- und zur Mahnmal-Debatte eingefallen: Sein Aufsatz ist schärfer als üblich und doch voller Verständnisinnigkeit

Intellektuelle sind, wie alle anderen, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, vom Markt abhängig; wie andere Menschen den Konjunkturen sind sie aber Denkmoden unterworfen.

Der kluge bürgerliche Intellektuelle weiß Konjunktur und Denkmode miteinander so zu verbinden, daß er nicht als Opportunist der Konjunkturen erscheint; statt dessen weiß er seine Affirmation des jeweils neuesten Denkens als marktunabhängigen Erkenntnisfortschritt zu verkaufen, diese Autonomie zum Gradmesser seiner Objektivität zu machen und in bare Münze zu verwandeln. Im besten Falle folgt daraus immerhin die Konsequenz, daß man die Verhältnisse 1:1 widerspiegelt, weil man sie nicht abstrahieren kann oder möchte.

Die Zeiten, in denen Intellektuelle - wenigstens subjektiv - frei vom unmittelbaren Verwertungsinteresse ihre Überlegungen anstellen konnten, sind vorbei; ihre Bemühungen, den Zeitgeist in die Flasche zu bekommen, gehen auf Kosten des Denkvermögens. Das gilt offensichtlich auch für emeritierte Professoren. Denn hofft man, sie nutzten die Entbindung von der Lehrpflicht, um sich mit abseitigen Dingen oder Memoiren zu beschäftigen, um mit anderen abzurechnen und sich schlecht gelaunt und knarzig, also im besten Sinne kulturkonservativ, zu gebärden, wird man enttäuscht. Vielmehr ist zu erleben, daß sie ihre neu gewonnene Freiheit gar nicht zu nutzen vermögen und folglich keine Gelegenheit auslassen, dem Gang der Dinge zu bestätigen, er sei in ihrem Sinne.

Meistens fällt dergleichen nicht auf, weil man ohnehin nichts anderes gewohnt ist. Nur wenn die Affirmation des Bestehenden zur Demonstration seiner ganzen Unerträglichkeit gerät, weil der Zeitpunkt deplaziert und der Inhalt deswegen falsch wird, erleben wir einen der seltenen Momente, in denen die Erbärmlichkeit der Intellektuellen offenbar wird. Wie geradezu peinlich es sein kann, wenn ein emeritierter Professor sich nicht richtig überlegt, was er sagen will und wann er es sagt, also scheinbar die Regeln des Marktes ignoriert, um sie so auf noch eindrucksvollere Weise zu bestätigen, das zeigte jetzt Jürgen Habermas in der Zeit. Unter der Überschrift "Der Zeigefinger: Die Deutschen und ihr Denkmal" faßt der Prediger des kommunikativen Handelns die erinnerungspolitischen Debatten der letzten Monate zusammen und plädiert in Sachen Holocaust-Mahnmal für das "negative Pathos" des Entwurfs "Eisenman II", der eingedampften Version des Stelenfeldes ohne die Ergänzungen von Kulturstaatsminister Michael Naumann.

Um nicht mißverstanden zu werden: Es liest sich gefällig, wenn Habermas über Gerhard Schröder schreibt: "Auf die telegen-trivialisierende Weise gelingt ihm mit wenigen Bemerkungen eine Entsorgung der Vergangenheit, die Kohl auf seine pompös-historisierende Art in Bitburg noch verfehlt hatte." Oder wenn er den Vorschlag des SPD-Theologen Richard Schröder abkanzelt, dem nur ein Obelisk mit dem Gebot "Du sollst nicht töten" in biblischem Hebräisch ein wirklich "mahnendes Mahnmal" sein kann: "Mit Verletzungen des fünften Gebots müssen wir seit Menschengedenken leben, mit dem Holocaust seit wenig mehr als einem Menschenalter."

Alles zu erwägen, dieses und jenes zu berücksichtigen, aber auch deutliche und scharfe Worte zu finden für derlei Unsinn, so kennt man Habermas. Und so kennt Habermas sich selbst: In Duktus und Stil erinnert sein Essay an seine Polemik gegen Ernst Nolte 1986, mit der er den Historikerstreit entschied. Damals setzte Habermas gegen den Revisionismus und den antiaufklärerischen Opfermythos der Deutschen das Bekenntnis zur bürgerlichen Demokratie, gegen die Kultur die Zivilisation, gegen die (Opfer-) Gemeinschaft die plurale Gesellschaft.

Mehr als ein Jahrzehnt später - unterdessen ist die "Zivilgesellschaft" angeblich Realität geworden und eine ganze Generation von Soziologen beschäftigt sich mit nichts anderem, als damit, ihre Vorteile zu preisen - haben die Begriffe, mit denen Habermas operiert, ihre schwammige Unbestimmtheit und damit auch ihre Unschuld verloren. "Bürgergesellschaft" zum Beispiel steht für die reaktionären Ausschweifungen von Ex-Linken wie Sibylle Tönnies, die damit nicht etwa die Gesellschaft meinen, sondern die Symbiose von autoritärem Staat und bürgerlicher Selbstverantwortungsmoral, eine kommunitaristisch aufgebürstete Volksgemeinschaft.

"Die von Walser angestoßene Debatte hat das Blatt gewendet", schreibt Habermas zu Beginn seines Essays und setzt fort: "Der Schuß ging nach hinten los. Die politische Öffentlichkeit hat sich freilich von diesen Rülpsern einer unverdauten Vergangenheit, die aus dem Bauch der Bundesrepublik in regelmäßigen Abständen aufsteigen, diesmal nur dank der Courage - das war das Beunruhigende - eines prominenten Juden be-freien können."

Das klingt nicht nur danach, das ist Pfeifen im Dunkeln. Die im Zusammenhang mit Martin Walsers Rede verbreiteten Assoziationen von Gedärmen und Rülpsern, bisweilen auch Fürzen, machen das Dilemma deutlich: Hier funktioniert der Körper unabhängig vom Bewußtsein. Daß daran auch etwas bedrohlich ist, vermag Habermas nicht zu artikulieren, denn auch er verliert keinen Satz darüber, weshalb es nicht er, sondern ein "prominenter Jude" war, der die befreiende Wirkung des Fencheltees hatte. Schließlich ist es auch die Art, Walser mit seinem Namen zu nennen, Ignatz Bubis hingegen nicht, die verrät, daß Habermas auch ein bißchen beleidigt ist, weil er den Zeitpunkt für eine Intervention verpaßt hat. Zugleich will er das wettmachen, davon zeugt jeder Satz.

Habermas kritisiert "eine Berliner Republik, die der falschen, der monumentalen Vergangenheit gewidmet werden soll". Die Ursache sieht er in einer "enttäuschten Linken", die sich eine "gesellschaftliche Polarisierung" nicht mehr zutraue und folglich "den nationalen Knoten" schürze. Die große Koalition "aus Michael Naumann und Wolf Jobst Siedler, Antje Vollmer und Hanna Renate Laurien, Ferdinand Fürst von Bismarck und Wolfgang Thierse" macht auch ihm Sorgen; die für Habermas ungewohnt deutlichen Formulierungen lassen auf ernsthafte Besorgnis schließen. Zugleich, und da fällt der Text vollkommen auseinander, formuliert er immer wieder so, als wäre diese große Koalition irgendeine gesellschaftliche Gruppe und nicht die politische Klasse des neuen Deutschland. Schließlich hat auch Habermas etwas zu verlieren, die Hypothese seiner Konsenslehre steht zur Disposition: "die allmähliche Verfertigung einer liberalen, über tiefe innenpolitische Gräben hinweg erkämpften politischen Kultur".

Habermas weiß, daß die Debatte um das Denkmal für die ermordeten Juden "im Zusammenhang mit der politischen Selbstverständigung der heutigen Generationen" steht und findet, "es kann nicht der Zweck dieses Denkmals sein, den Holocaust als 'Gründungsmythos der Bundesrepublik' einzusetzen". Wenige Sätze später aber schreibt er: "Natürlich richtet sich der symbolisch zum Denkmal gerinnende Akt der Selbstvergewisserung, der ja nicht zufällig den Beginn der Berliner Republik markieren soll, an die Deutschen von morgen."

Dieser Widerspruch, den Habermas nicht auflösen kann, ohne seine eigene Theorie zu verraten, wird auch in seiner Auseinandersetzung mit dem Vorschlag von Richard Eisenman deutlich: "Gewiß, ich hätte mir auch einen anderen Ort und eine andere Gestalt als das Stelenfeld von Serra und Eisenman vorstellen können - zum Beispiel den von Salomon Korn vorgeschlagenen 'abgrundtiefen Spalt' vor dem Eingang zum Berliner Parlamentsgebäude, über den dann jeder hinwegmüßte, der den Bundestag betritt oder verläßt." In dieser Beschreibung wird das Verständnis vom Holocaust als Zivilisationsbruch deutlich; über eine Brücke wird die Vorgeschichte von Auschwitz mit der danach verbunden, die Vernichtung bleibt im Wortsinne ein Abgrund der bürgerlichen Gesellschaft.

Von diesem Wunschbild eines zivilisierten Deutschlands bleibt aber auch bei Habermas nicht viel übrig: "Solange die Integrität des Denkmals nicht ohne massives Polizeiaufgebot rund um die Uhr gesichert werden kann, hat unser Land eben die Art doppelbödiger Normalität noch nicht erreicht, die hier - for the time being - einzig möglich ist." So kapituliert er vor seinen eigenen Begriffen, es bleibt nur die Doppelbödigkeit, die im Grunde nichts anderes ist als das Fortwesen des Faschismus in der Demokratie.

Aber diese Diagnose Theodor W. Adornos, die noch an die Unhaltbarkeit dieses Zustands gemahnt, ist Habermas' Sache schon lange nicht mehr. Deswegen folgt der Erkenntnis nicht die Kritik, sondern die Versöhnung: "Der Holocaust fordert die Deutschen zu einer räumlichen und zeitlichen Entgrenzung der moralischen Verantwortung der demokratischen Bürgergesellschaft auf."

Was wie eines der häufigen Plädoyers für den sofortigen Einsatz von Bodentruppen in Jugoslawien klingt, ist der verzweifelte Versuch von Habermas, mit eben jenen Begriffen, die seit zwei Wochen einen Angriffskrieg legitimieren sollen, die Berliner Republik auf die Seite der Zivilisation zu retten.