"¹" von Darren Aronofsky

Zahlensalat

Bei Max (Sean Gullette) liegen die Nerven blank. Zehn Jahre hat er versucht, das numerische System zu entschlüsseln, das sich hinter der - wie er glaubt - perfekten Struktur des Weltchaos verbirgt. Die Weltformel! So intensiv hat seit Friedrich Dürrenmatts seligen Theaterfiguren keiner mehr danach gesucht.

Aber im Unterschied zu den Forschern des Schweizer Schriftstellers ist dem Mathematik-Genie Max in Darren Aronofskys Regiedebüt "¹" noch etwas aufgefallen: Die 214stellige Schlüsselzahl soll auch das weltweite System der Börsen beeinflussen. Klar, daß sich die professionellen Geldanleger auch dafür interessieren. Eine rücksichtslose Wall-Street-Firma verfolgt ihn und droht entweder mit knallharten Sanktionen oder lockt mit dem teuren neuen Computerchip, mit dem Max seine Berechnungen viel besser anstellen könnte, als er das ohnehin schon kann: Sein "live-in"-Computer Euclid - zugleich Max' Behausung - hat die alte Steuereinheit gerade verbrutzelt, weil sich in deren Vakuum seltsame Insekten einquartiert hatten.

Hinter Max sind auch die Mitglieder einer jüdisch-orthodoxen Sekte her, die seit Jahren das Geheimnis der Zahl mit den sagenhaften 214 Stellen zu lüften sucht. Eines ihrer Mitglieder gibt Max sogar den entscheidenden Tip zur Berechnung. Nun aber wollen sie das Ergebnis haben. Wegen ihrer Beschäftigung mit der mystischen Zahlenlehre der Kabbala liegt ihnen die Wunderzahl ebenso am Herzen wie den Börsenfreaks. Max' Theorie: Mathematik ist eine Sprache der Natur. Alles, was uns umgibt, kann durch Zahlen dargestellt und erfaßt werden. Stellt man die Zahlen eines jeden Systems in einem Diagramm dar, entstehen Muster. Daraus folgt: Überall in der Natur gibt es Muster.

Aronofsky möchte nun das Innenleben seines Forscherhelden visualisieren. Der ganze Film ist in Schwarzweiß gehalten, Max' Wahrnehmung wird zusehends von einer auf mathematischen Überlegungen basierenden Verschwörungstheorie getrübt. Dazu kommt eine schwache Gesundheit, Krämpfe und Kotzanfälle schütteln den dünnen Mann, der wie ein kranker John Lurie herumläuft.

"Outer space - der Weltraum - ist tot. Inner space heißt die nächste Reise", sagt Aronofsky. Mit der Umsetzung hapert es manchmal: Allzu oft sieht man die gleichen Sequenzen zu Max' Bewußtseinstrübungen. Interessant ist jedoch die Finanzierung dieses Projekts: Anders als Max, ein ausgemachter Einzelkämpfer, hat Aronofsky für seinen Film Anteilsscheine herausgegeben. Wer 100 Dollar einzahlte, durfte bei Erfolg mit einer Gewinnmarge von 150 Dollar rechnen. Die Filmcrew erhielt 200 Dollar Honorar, jedoch nicht sofort. Dazu kam ein Anteil von 50 Punkten auf das eventuelle Einspielergebnis des Films. "Dadurch wurde für alle Mitarbeiter '¹' zu ihrem eigenen Film. Wir alle wollten, daß '¹' großartig wird und standen leidenschaftlich hinter dem Projekt", erzählt der Regisseur - hoffentlich hört das keiner in der Großindustrie!

Anregungen für die Idee sammelte Aronofsky in Israel, wo er in einem Kibbuz lebte. Dort sollte er in einer Kunststoff-Fabrik arbeiten. Schon nach zwei Tagen gab er auf. Bald lernte er Mitglieder einer chassidischen Glaubensgemeinschaft kennen, die ihn auf die Bedeutung von Zahlen in der jüdischen Mystik hinwiesen. Zurückgekehrt in die USA, mußte er feststellen, daß seine alten Freunde alle Börsenmakler geworden waren. So kam der Autor offensichtlich zu einem handfesten Verfolgungswahn, den er in "¹" dem staunenden Publikum präsentiert.

"¹". USA 1997. R: Darren Aronofsky. Start: 8. April