Energie wie noch nie

Damit der Tschernobyl-Reaktor endlich abgeschaltet werden kann, werden in der Ukraine neue unsichere Atomkraftwerke gebaut

Abschaffung der Todesstrafe, Einhaltung der Menschenrechte und eine stabile demokratische Entwicklung. Ohne das, teilte Außenminister Joseph Fischer am vergangenen Dienstag seinen Gastgebern in der Ukraine mit, gibt es auch keine engere Zusammenarbeit zwischen der ehemaligen Sowjetrepublik und der Europäischen Union.

Dabei will die von Präsident Leonid Kutschma geführte Regierung in Kiew unbedingt ihre politischen wie wirtschaftlichen Beziehungen zur EU verbessern und strebt eine gemeinsame Freihandelszone sowie einen Assoziierungsvertrag mit den westeuropäischen Union an.

Aber nicht nur die Ukraine drängt auf bessere wirtschaftliche Zusammenarbeit, in Deutschland bemüht sich vor allem die Atomindustrie um die osteuropäische Präsidialrepublik. Erst in der vergangenen Woche behauptete der Spiegel, die Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerke (RWE) würden mit der Ukraine über den Import von Atomstrom "zum weltweit einzigartigen Dumpingpreis" von 1,2 Pfennig pro Kilowattstunde verhandeln. Der Energiekonzern dementierte die Notiz jedoch sogleich.

In der Tat könnte der staatseigene ukrainische AKW-Betreiber Energoatom westliche Geschäftspartner ganz gut gebrauchen. Knapp 95 Prozent des in der Ukraine produzierten Stroms werden mittlerweile nicht bezahlt oder nur durch Warenaustausch und Schuldverschreibungen abgegolten - ein Spezifikum der maroden Wirtschaften Osteuropas. Und so warten auch die Angestellten der Energoatom seit fast einen halben Jahr auf die Auszahlung ihrer Gehälter - insgesamt stehen Zahlungen in Höhe von umgerechnet knapp 30 Millionen Euro aus. Entsprechend groß ist die Unzufriedenheit unter den Beschäftigten: Rund 12 000 ArbeiterInnen streikten am 7. März dieses Jahres für ihre Löhne.

Denn knapp 13 Jahre nach dem Störfall von Tschernobyl im April 1986 sind die AKW in der Ukraine nicht viel sicherer. Allein in den ersten sechs Monaten des Jahres 1998 hat sich die Anzahl der Störfälle in den ukrainischen AKW im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um die Hälfte erhöht.

Zwar beschloß das Parlament in Kiew 1991 - nachdem durch ein Feuer ein Teil des verbleibenden AKW zerstört und der Reaktor abgeschaltet worden war - die Stillegung des gesamten Kraftwerkkomplexes in Tschernobyl bis zum Jahre 1993. Aber 1993 wurden diese Beschlüsse wieder zurückgenommen. Schließlich will die Ukraine für die Stillegung der gefürchteten Reaktor von Tschernobyl entsprechende Gegenleistungen aus dem Westen sehen. "Die Gefahr einer erneuten Atomkatastrophe", so meint Tobias Münchmeyer, Atomexperte von Greenpeace, "ist zu einer wirtschaftlich ausbeutbaren Ressource geworden."

Erstmals traf die Ukraine 1995 mit den G7-Ländern zusammen und verständigte sich damals auf ein "Memorandum of Understanding". Darin wurde die Abschaltung des Tschernobyl-Kraftwerkes bis zum Jahr 2000 vereinbart, die Frage nach möglichen Alternativen zur Energiegewinnung jedoch nicht geklärt. Immerhin kommen zwei Fünftel des in der Ukraine verbrauchten Stroms aus Atomkraftwerken. Der ukrainische Präsident Kutschma und sein Umweltminister Jurij Kostenko sahen daher im Bau von Gaskraftwerken einen möglichen Ausweg. Allerdings wäre die Ukraine dadurch von Rußland abhängig geworden, weil das Gas durch das große Nachbarland angeliefert werden müßte.

Im Westen wollte man das auf jeden Fall verhindern, und so entschieden sich die G7-Staaten für eine andere Option: Die Wiederaufnahme der im Jahre 1991 eingestellten Bauarbeiten an zwei Reaktoren in Rowno und in Chmelnizki, beide im Nordwesten des Landes. Und zwar mit deutscher Hilfe: Der Siemens-Konzern erhielt 1996 den Auftrag für die Lieferung von Sicherheitstechnik für den Rowno-Reaktor - finanziert durch Hermes-Bürgschaften, für die die Bundesregierung rund 405 Millionen Euro zur Verfügung gestellt hat.

Insgesamt sind für die Kosten der beiden Neubauten, die das Kraftwerk bei Tschernobyl überflüssig machen sollen, 1,6 Milliarden Euro projektiert. Die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD), an der die Bundesregierung mit 8,52 Prozent hält, erwägt, sich mit einem Kredit über 340 Millionen Euro zu beteiligen. Wenn die EBRD einwilligt, wird auch die europäische Atombehörde Euratom, einen Kredit in Höhe von 450 Millionen Euro freigeben. 870 Millionen Mark der Investitionen sollen durch Hermes-Bürgschaften und das französische Pendant Coface abgedeckt werden.

Und selbst die Behörde von Bundesumweltminister Jürgen Trittin will sich nach einem Bericht der Berliner Zeitung ab Anfang April finanziell an den beiden Reaktoren beteiligen. Aus dem Ministerium wird dies dementiert und betont, daß der Ersatz des Tschernobyl-Reaktors "absolute Priorität" hat.

Aber selbst die Bundestagsabgeordneten der Koalition scheinen den Beteuerungen nicht zu trauen. Nach einem Bericht der Nachrichtenagentur Reuters in der vergangenen Woche wollen SPD- und Grüne-Politiker mit einem Parlamentsbeschluß eventuelle Finanzhilfen für den Bau von Rowno und Chmelnizki verhindern.

Für Energiekonzerne wie Siemens und die französische Framatome hat das Projekt in der Ukraine hingegen Modellcharakter: Erstmals würden mit Krediten von internationalen Finanzinstitutionen - wie der EBRD - AKW gebaut. Und der Einstieg in die osteuropäische Energiewirtschaft wäre nicht nur gesichert, sondern auch risikofrei finanziert. Außerdem wären die Leihgaben des Westens mit Bedingungen für die ukrainische Stromwirtschaft verknüpft: die Effektivierung der Energoatom, sowie weitere Privatisierungen in der Wirtschaft.

Allerdings gab die Kreditanstalt für Wiederaufbau im Februar die Weisung, keine Hermes-Bürgschaften für das Projekt zu gewähren, weil die Energoatom nicht kreditwürdig sei. Eine Kreditvergabe solle nur erfolgen, wenn die Finanzierung über Atomstromexport in den Westen läuft. Und um die dafür notwendige Infrastruktur bemüht man sich bereits: Siemens beteiligt sich momentan an dem Bau einer Stromtransportleitung von Litauen nach Deutschland. Weitere Projekte sind in Planung, denn die potentiellen Hauptabnehmer des importierten Atomstromes sind in Deutschland zahlreich, u.a. die Veba-Tochter PreussenElektra und die VEAG.

Der Energieimport wäre für Deutschland, das sich wie kein anderes Land für die Schließung von Tschernobyl eingesetzt hat, zugleich ein Export des atomaren Risikos. Denn die Unternehmen drängen nicht nur auf eine Finanzierung des Reaktorprojektes, sondern auch auf geringere sicherheitstechnische Auflagen. Trotz teurer Siemenstechnologie hat beispielsweise das AKW Rowno einen niedrigeren Sicherheitsstandard als das AKW Stendal in der ehemaligen DDR, das wegen Sicherheitsbedenken stillgelegt wurde. Ähnlich wie Stendal weisen die beiden ukrainischen Reaktoren Konstruktionsmängel auf - wie eine schwache äußere Schutzhülle, mangelnde Brandschutzvorrichtungen oder einen spröden Reaktordruckbehälter.