Katz und Maus

Wenn es in den siebziger Jahren galt, militante Linke zu infiltrieren, war Michael Grünhagen immer dabei. Heute reist "Hans Benz" durch die Weltgeschichte, um Aussteiger einzusammeln. Von Wolf-Dieter Vogel

I.

Michael Grünhagen

Unser bester Mann

Berlin, im Januar 1988. Es ist eng geworden für Michael Grünhagen. Oder sagen wir für "Michael Wegner", wie er sich gerade nennt. Man könnte meinen, in den letzten Monaten hätte sich alles gegen den 50jährigen Geheimdienstler verschworen: Die Presse, die Politik, ja selbst die eigenen Kollegen machen Grünhagen alias Wegner Ärger.

Daß ihn ausgerechnet einer seiner Kollegen aus dem "Amt" in einem Brief öffentlich anschwärzt, dürfte den Berliner Verfassungsschützer am härtesten getroffen haben. Ein Journalist vom NDR-Magazin "Panorama" hat aus dem Innern des Verfassungsschutzes ein fünfseitiges Schreiben erhalten, das an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig läßt. "Ein Freund" erklärt dort: "Ich kann es nicht mehr ertragen mitanzusehen, wie Sachverhalte, die den Verfassungsschutz seit Jahren belasten, aus falscher Rücksichtnahme nicht bereinigt, sondern in immer bedrückenderer Atmosphäre von den Beteiligten einhergerollt werden. Meine hohen Herren spielen sich die Bälle zu, vertuschen alles. Ehe Grünhagen erneut, diesmal vielleicht für immer, untertaucht, muß gehandelt werden."

Nicht nur der Brief aus dem Amt macht dem Geheimen Sorgen: In der "Panorama"-Sendung, die im Oktober 1987 ausgestrahlt wird, veröffentlicht das Polit-Magazin auch noch ein Foto von ihm und macht den bislang geheimgehaltenen Wohnsitz Grünhagens im Berliner Bezirk Gatow publik. Dabei hatte sich der Verfassungsschützer extra dorthin zurückgezogen, um nach seiner ersten Enttarnung im Jahre 1980 von der Bildfläche zu verschwinden. Nun ist absehbar, daß der VS-Mann wieder seine Identität ändern muß, zumal "Panorama" darüber informiert, daß die Gatower Villa für eine lockere halbe Million Mark auf Staatskosten von einem Mann renoviert worden ist, der als KGB-Agent bekannt wird.

Obwohl der Geheimdienstler Grünhagen - offiziell - bereits 1983 vom Thema "Terrorismus" Abschied nimmt und sich angeblich in das Referat Ausländerextremismus versetzen läßt, muß er sich also wieder etwas Neues einfallen lassen. Die vierte Auflage des Verfahrens um den Mord an dem Verfassungsschutzspitzel Ulrich Schmücker rückt in absehbare Nähe - und damit die Gefahr, daß man ihn persönlich und seine Behörde wegen enger Verstrickungen in die Aktion an den Pranger stellt. Schließlich ist Grünhagen, wie ihm nachträglich auch eine parlamentarische Untersuchungskommission bestätigen wird, die Schlüsselfigur in der Schmücker-Affäre. Ohne grundlegende Veränderung geht also nichts mehr.

Dabei beginnt alles recht erfolgversprechend. Kaum sind damals, im Mai 1972, die Mitglieder der Bewegung 2. Juni Inge Viett, Wolfgang Knupe, Harald Sommerfeld und Ulrich Schmücker auf dem Weg zur türkischen Botschaft in Bonn mit einer Bombe im Auto verhaftet worden, da ist er schon zur Stelle. Unter dem Namen "Peter Rühl" geht Oberamtsrat Grünhagen in den siebziger Jahren in den deutschen Gefängnissen ein und aus, um - natürlich mit der notwendigen Zustimmung der jeweiligen Staatsanwälte - Gefangenen, die der RAF, der Bewegung 2. Juni oder auch den Revolutionären Zellen zugerechnet werden, Aussagen zu entlocken.

Über juristische Feinheiten muß sich Grünhagen keine Sorgen machen. Stefan Aust schreibt später in konkret über den Geheimdienstler, er sei "in seiner ganz konkreten Stellung jedem Polizeibeamten, jedem Staatsanwalt überlegen, denn Grünhagens Arbeit verlief faktisch ohne jegliche Kontrolle, ohne jede rechtsförmige Überprüfung". Er könne Hafterleichterungen durchsetzen und mit Staatsanwälten sowie "wohl auch mit Richtern über Strafzumessung und vorzeitige Entlassung verhandeln".

Der Mann von der Abteilung IV, Verfassungsschutz (VS), Bereich Ursachenforschung Terrorismus, hat schon freie Hand, als er im Juni 1972 in der Justizvollzugsanstalt Koblenz erscheint, um Schmücker zu besuchen. Grünhagen alias Peter Rühl führt mit dem Untersuchungshäftling zunächst theoretische Diskussionen über die Westberliner Stadtguerilla oder etwa den von Polizeibeamten erschossenen Militanten Georg von Rauch. Rühl kennt sich aus, er weiß die Terminologie der Szene richtig einzusetzen: "Das können Sie mir glauben, ich linke Sie nicht, denn das würde sich rumsprechen, und dann sagt mir ja keiner mehr was." Schmücker selbst kommt zunächst kaum zu Wort, denn der Geheime aus der Mauerstadt liebt lange Monologe, hört sich gerne selbst reden und kokettiert mit seinem Wissen über Szene-Interna. "Ich weiß zum Beispiel", erzählt er Schmücker, "daß vorige Woche 3 000 Mark auf das Konto der Schwarzen Hilfe überwiesen wurden. Da staunen Sie, was?"

Später bietet er den üblichen Deal an: Schmücker sollte seine Kenntnisse über die Bewegung 2. Juni ausplaudern, im Gegenzug verspricht ihm Rühl ein mildes Urteil, sogar ein Auslandsstudium könnte drin sein. Schmücker zögert. Doch dann, drei Besuche und fünf Wochen nach seiner Verhaftung, geht er auf das Angebot ein. Schmücker plaudert, und wenn es denn sein muß, hilft Rühl nach. "An Stellen, an denen ich nicht weiter wußte", berichtet der damals 21jährige Student später über eines der Gespräche, "las er mir an diesem wie auch an anderen Tagen die Aussagen von Sommerfeld vor. Gerade an diesem Tag gab Rühl mir recht genaue Anweisungen über das, was ich zu schreiben hatte, und formulierte zum Teil ganze Sätze."

Grünhagen weiß, wie er zu den gewünschten Informationen kam. Und der Deal geht auf: Schmücker wird zu einer zweieinhalbjährigen Gefängnisstrafe verurteilt, kommt aber sofort, also nach neun Monaten Untersuchungshaft, "aus gesundheitlichen Gründen", wieder auf freien Fuß. Obwohl durch seine Aussagen drei Mitglieder des 2. Juni verhaftet werden, entscheidet sich Schmücker für einen zweiten Versuch, in der Berliner Militanten-Szene Fuß zu fassen, kündigt aber auch gleich an, er werde "mit Rühl in Verbindung bleiben".

Wie freiwillig er diesen Schritt geht, bleibt ungeklärt. Kaum ist er aus der Haft entlassen, so berichtet Schmückers Mutter später, zitiert ihn Grünhagen zu einem gemeinsamen Treffen. Und droht: "Wenn du nicht kommst, dann wird das Folgen für dich haben!" Der Geheimdienstler ist offensichtlich unruhig geworden, nachdem er erfahren hat, daß Schmücker sich in der Szene rehabilitieren und aus diesem Grund die Aussagen gegen Viett, Knupe, Sommerfeld und andere im noch anstehenden Prozeß zurücknehmen will.

16 Monate später ist Schmücker tot. Soldaten der US-Armee finden den jungen Mann in der Nacht vom 4. auf den 5. Juni 1974 während eines Manövers an der Krummen Lanke im Berliner Grunewald. Schmücker stirbt vor den Augen der GIs, erschossen mit einer Parabellum 08, Kaliber neun Millimeter. Etwa zur gleichen Zeit trifft sich V-Mann "Wien" vor dem "Drugstore" am Kurfürstendamm mit einem etwas rundlichen Mittdreißiger, um ihm die mutmaßliche Tatwaffe sowie zwei dazugehörige Magazine zu übergeben. Der Mann namens "Steinecker" zögert, will noch etwas warten.

Die Übergabe findet erst am nächsten Tag statt. Der V-Mann "Wien", mit adlig-bürgerlichem Namen Volker Weingraber, Edler von Grodek, gibt die Waffe, die er 24 Stunden vorher vom Mörder Schmückers erhalten haben will, an seinen Agentenführer Michael Grünhagen alias "Steinecker" weiter. Der Geheimdienstler bringt sie umgehend in seine Dienststelle in der Clayallee. Dort, im Panzerschrank des Berliner Landesamtes für Verfassungsschutz, wird die Parabellum die nächsten 15 Jahre lagern, erst im Mai 1989 taucht sie wieder auf.

Inzwischen hat sich ein "Kommando Schwarzer Juni" zu dem Mord an dem "Konterrevolutionär und Verräter" bekannt. "Jede revolutionäre Bewegung", so heißt es in einem Schreiben, das am 6. Juni bei der Frankfurter Rundschau eingeht, "muß sich mit der Problematik der Bespitzelung und des Verrats befassen, will sie nicht schon in Ansätzen ihrer Arbeit erstickt und liquidiert werden."

Was zu diesem Zeitpunkt noch nicht bekannt ist: Der Verfassungsschutz fühlt sich nicht nur verantwortlich dafür, daß die Tatwaffe rechtzeitig verschwindet. V-Männer und Informanten der Behörde sind von Anfang an an den Mordplänen beteiligt und observieren die mutmaßlichen Täter bei ihren Vorbereitungen. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird Schmücker unter den Augen von Grünhagens Männern, wenn nicht gar von einem der Beobachter umgebracht. Bis heute kann niemand schlüssig erklären, warum eine Observation Schmückers, die der Berliner VS für den Tattag anordnet, abgebrochen wird.

Schließlich hat Grünhagen seinen alten Schützling immer ganz gut im Blick. Der Verfassungsschützer hat sich eine regelrecht unangenehme Rolle für Schmücker ausgedacht: Als Lockvogel soll er das "Amt" zum sogenannten harten Kern der Bewegung 2. Juni führen. Im Visier: Inge Viett und Ralf Reinders. Sollte es stimmen, daß Schmücker für seine Aussagen gegenüber dem Verfassungsschützer gerächt werden soll, dann werden auch die beiden, die als "Kopf der Gruppe" angesehen werden, zumindest indirekt Kontakt zu ihm halten müssen. So zumindest die Logik des VS-Mannes. Mit Schmückers Karriere sieht es allerdings schlecht aus. Sein Versuch, sich nach seinem Knastaufenthalt unter falschem Namen wieder in der linksradikalen Szene zu integrieren, nimmt ein jähes Ende: Er wird von einem Mitbewohner enttarnt, fliegt aus der Wohngemeinschaft, seine Freundin quittiert die Beziehung und läßt ein gemeinsames Kind im fünften Monat abtreiben.

Auch andere Rehabilitierungsversuche scheitern. So ein "Volkstribunal", in dem Schmücker einen Fragebogen der "nationalen und internationalen Bewegung" beantworten und dadurch beweisen soll, daß er sich von seinen Kontakten zum Verfassungsschutz verabschiedet hat. Das mehrseitige Schreiben überreicht ihm Götz Tilgener, über den Schmücker wieder in die Szene gekommen ist, in der Kneipe "Tarantel". Tilgener hält, wie Schmücker, regen Kontakt zum VS-Mann Grünhagen. Auch am Tresen der "Tarantel" steht kein Unbekannter: In dem stadtbekannten Treffpunkt in der Kreuzberger Köpenicker Straße kellnert seit mehreren Monaten jener Spitzel, der Grünhagen in der Mordnacht die Waffe gegeben hat: Volker Weingraber, Edler von Grodek. Auch er informiert seinen V-Mann-Führer selbstverständlich regelmäßig.

Der Geheimdienstler weiß also bestens über alle Pläne Bescheid, zumal einige der aus Wolfsburg kommenden sechköpfigen Kommune öfter in der Wohnung Weingrabers ein- und ausgehen. Selbst bei den "Wolfsburgern" , die später für den Mord an Schmücker vor Gericht stehen werden, ist man übrigens nicht unter sich: Jürgen Bodeux, der sich später im Verfahren sofort als Kronzeuge gegen seine ehemaligen Genossen und Genossinnen anbietet, ist mit ziemlicher Sicherheit ein Agent des Verfassungsschutzes. Dafür spricht zumindest vieles, was die Verteidiger im Schmücker-Prozeß über die Geschichte von Bodeux recherchieren.

Kaum eine Woche im Gefängnis, beginnt Bodeux zu plaudern. Seine Gesprächspartner: Staatsanwalt Jürgen Przytarski und ein Mann vom Berliner Amt. Diesmal ist es jedoch nicht Grünhagen persönlich, sondern sein Stellvertreter mit dem Namen "Seifert". Seifert hat von seinem Chef gelernt. Gemeinsam mit Przytarski sowie einem von dem Staatsanwalt eingekauften Verteidiger wird Bodeux bearbeitet. Drei Monate später gilt er als Kronzeuge par excellence. Vor Gericht erklärt er, er habe die Waffe beschafft und mit der Hauptangeklagten den Tatort ausgewählt, geschossen habe aber ein anderes Mitglied der "Wolfsburger Kommune".

Der Deal lohnt sich: Bodeux sitzt später wegen gemeinschaftlichen Mordes insgesamt zweieinhalb Jahre in Haft, während die anderen mutmaßlich Beteiligten in den ersten Urteilen sehr hohe Freiheitsstrafen bekommen. Auch im Amt kann man zufrieden sein: Die zahlreichen Hinweise, die dafür sprechen, daß der Mann schon als Spitzel tätig ist, bevor er die Wolfsburger überhaupt kennenlernt, führen nicht zu seiner Enttarnung.

Doch einen Bodeux brauchte es zunächst nicht: Grünhagen wird vom Opfer höchstpersönlich darüber informiert, daß er ernsthaft bedroht sei. Fünf Tage vor seinem Tod bittet V-Mann "Kette", wie Schmücker im Amt geführt wird, den Geheimdienstler um eine Schußwaffe, um sich zu schützen. Noch am Morgen des 4. Juni, Grünhagen weiß mittlerweile von den Mordplänen gegen Schmücker, wird er von Weingraber gewarnt. Die potentiellen Todesschützen, informiert Agent "Wien", hätten seinen VW-Bus geliehen. Dennoch lehnt Grünhagen eine Observation des Fahrzeuges ab. Um Weingraber nicht zu gefährden, wie er erklärt. An den vorhergehenden Tagen halten ihn solche Sorgen freilich nicht vor einer Überwachung ab. Auch Schmücker selbst meldet sich ein letztes Mal bei seinem V-Mann-Führer und bittet um ein Treffen am selben Tag.

Ob die Verabredung noch stattfindet, ist bis heute ungeklärt. Jedenfalls weiß man nicht, wer jene zwei Männer sind, mit denen Schmücker von einem Zeugen im knapp ein Kilometer von der Krummen Lanke entfernten leerstehenden Hotel "Rheingold" gegen 22.15 Uhr gesehen wird. Etwa zwei Stunden später wird Agent "Kette" tot aufgefunden.

Die meisten dieser Details bleiben jahrelang im dunkeln. Erst zwölf Jahre später, 1986, mittlerweile läuft bereits das vierte Revisionsverfahren, kommt das tatsächliche Ausmaß der Verstrikkungen des Verfassungsschutzes in den Mordfall Schmücker ans Tageslicht. Weder die Verteidiger noch die Richter der ersten drei Prozeßdurchläufe erfahren vorher, welche wichtige Rolle die Geheimdienstbehörde, insbesondere Grünhagen, spielt. Dafür, daß die Verdunkelung so reibungslos funktioniert, sind freilich vor allem der VS-Mann selbst, aber auch die Staatsanwälte Przytarski und Wolfgang Müllenbrock verantwortlich.

Noch am 5. Juni, Schmücker ist gerade mal 15 Stunden tot, steigt Grünhagen unter Rückendeckung seines Chefs Franz Natusch und mit Hilfe des damaligen Bürgermeisters und Innensenators Kurt Neubauer in die "Sonderkommission Schmücker" ein. Von nun an liefert er die entscheidenden Informationen: Gezielt nehmen die polizeilichen Ermittler daraufhin die Wolfsburger als einzig mögliche Tätergruppe ins Visier, während ebenso gezielt jegliche Verstrickung des Verfassungsschutzes außen vor bleibt. Nicht minder gut verläuft die Zusammenarbeit mit der Staatsanwaltschaft. "Grünhagen wich mir nicht von den Hacken", erinnert sich später Strafverfolger Przytarski, "und wollte immer alle Schritte wissen."

Przytarski selbst hat freilich allen Grund, Grünhagens Wissen dankbar entgegenzunehmen. Der Berliner Staatsanwalt steht am Anfang einer Karriere, in der ihm die Kooperation mit dem Amt noch häufiger zugute kommt. In den folgenden Jahren gibt es eine Unzahl widerrechtlicher Absprachen zwischen dem Geheimdienstler Grünhagen und der Anklagebehörde, die die Ermittlungen entscheidend beeinflussen: Kronzeugen werden präpariert, Beschuldigte illegal zu Aussagen gezwungen. Für Przytarski lohnt sich der Aufwand: 1985 wird er zum stellvertretenden Verfassungsschutzchef Berlins ernannt. Sein Kollege Müllenbrock, zunächst rechte Hand, später selbst federführend im Schmücker-Prozeß tätig, bringt es zum Staatssekretär beim Senator für Inneres. Dort kümmert er sich um Feuerwehr, Polizei - und den Verfassungsschutz.

Auf Müllenbrock kann sich der VS-Mann verlassen. Mit Hilfe des Staatsanwalts sorgt Grünhagen auch im sogenannten Lorenz-Drenkmann-Verfahren für einen Kronzeugen. Nach dem gleichen Muster, wie er bei Schmücker im Koblenzer Knast auftritt, widmet sich Grünhagen 1975 unter dem Namen "Peter Petersen" dem damaligen 2. Juni-Mitglied Reiner Hochstein. Gemeinsam reisen Petersen und Müllenbrock, der ermittelnde Staatsanwalt in dem Verfahren, beispielsweise nach Hamburg, um von Hochstein im Gefängnis eine Aussage über die Hintergründe der Ermordung des Berliner Kammergerichtspräsidenten Günter von Drenkmann zu erpressen.

Wieder folgt dasselbe Spiel: Grünhagen macht auf Kumpel, bringt Zigaretten und Frühstück mit zu seinem "Kunden" und stellt eine frühzeitige Entlassung in Aussicht. Sollte er nicht aussagen, droht der Verfassungsschützer, plötzlich ganz autoritär, mit Mordanklage und lebenslänglicher Haft. Hochstein spielt mit. Später, 1977, springt dann auch Przytarski ein, um den Kronzeugen für den Lorenz-Drenkmann-Prozeß zu präparieren. Das Ergebnis des Dreiergespanns Grünhagen, Müllenbrock und Przytarski kann sich sehen lassen: Lügen vor Gericht, Absprachen mit Hochsteins vom Verfassungsschutz finanzierten Verteidiger. Und natürlich falsche Versprechungen an den Kronzeugen. Denn über sein Verständnis von Zusammenarbeit läßt Grünhagen schon im Fall Schmücker keinen Zweifel: "Wir schützen unsere Leute nur, solange wir sie brauchen." Skrupel hat der Geheimdienstler freilich nicht: Ein politischer Gefangener erinnert sich daran, wie Grünhagen später beim Versuch, ihn im Knast zu "bearbeiten", lachend ins Gespräch wirft: "Der Schmükker ist ja noch angekommen, als wir den gar nicht mehr haben wollten."

Wider alle Erwartungen scheitert der Versuch, mit Hilfe Hochsteins mehrere Mitglieder der Bewegung 2. Juni des Mordes an Drenkmann zu überführen. Im Mai 1980 veröffentlicht konkret ein Foto von "Verfassungsschützer Grünhagen alias Rühl alias Petersen". Die Folge: Der Geheimdienstler muß sich aus seiner "Zeugenbetreuung" zurückziehen. "Ich bin enttarnt worden. Es ist für mich ein Sicherheitsrisiko, hier weiter bei Ihnen zu erscheinen", sagte er Hochstein. Zu spät. Der 2. Juni-Angeklagte Andreas Vogel hat Grünhagen auf dem Foto als jenen Mann wiedererkannt, der bereits Jahre zuvor Hochstein im Gefängnis besuchte. In der Konsequenz bricht der Kronzeuge und damit die gesamte Anklage im Fall Drenkmann zusammen. Schließlich basiert der Mordvorwurf ausschließlich auf Hochsteins Aussagen.

Aber auch für Grünhagen ändert sich das Leben. Der umtriebige VS-Mann gilt als verbrannt und kann sich - zumindest offiziell - nicht mehr bei der Klientel seines Spezialbereichs "Terrorismus" in Berlin blicken lassen. Nach einem längeren Urlaub in Österreich und einem Aufenthalt beim Bundesnachrichtendienst in Pullach muß nun eine neue Perspektive gefunden werden. Grünhagens Chef Natusch hätte ihn wohl gerne in Westdeutschland gesehen, das aber lehnt "unser bester Mann" ab. Grünhagen bleibt in der Mauerstadt, wechselt aber Namen und Abteilung. Im Referat Ausländerextremismus findet er einen neuen Job, und von nun an heißt er "Michael Wegner". Für die notwendige legale Ausrüstung sorgt die Tarnmittelstelle des Hamburger Verfassungsschutzes. Der Name Grünhagen verschwindet in der Folge aus sämtlichen öffentlichen Eintragungen, vom Melderegister bis zur Krankenkasse. "Michael Wegner" zieht in die Villa im Berliner Stadtteil Gatow.

Alles scheint sich zum Guten zu wenden: Zwar wird im mittlerweile dritten Schmücker-Prozeß, der im Mai 1981 beginnt und bis Juni 1986 dauert, die Verstrickung des Verfassungsschutzes in den Mord immer offensichtlicher. Doch das wahre Ausmaß bleibt weiterhin im verborgenen. Das Gericht bestätigt im wesentlichen, was zuvor schon in zwei Prozessen geurteilt wurde: Die Wolfsburger Kommune hat sich des gemeinschaftlichen Mordes schuldig gemacht. Erst im Oktober, drei Monate nach dem Urteilsspruch, kommt langsam die tatsächliche Dimension der geheimdienstlichen Beteiligung an die Öffentlichkeit: Der Spiegel meldet, daß Volker Weingraber, Edler von Grodek, über sieben Jahre lang für das Amt gearbeitet hat. Der Top-Spitzel Grünhagens lebt derweil, ausgestattet mit "Schweigegeldern" von rund einer Million Mark aus der Berliner Landeskasse, auf einem Weingut in Italien.

Aber für Grünhagen kommt es noch dicker. Zunehmend machen in der Szene wieder Gerüchte um den "Genossen Christian Hain" die Runde, wie sie früher schon einmal im Umlauf waren. Sollte Hain nun auch noch enttarnt werden? Ausgerechnet Hain, den Grünhagen nach dem Mord an der Krummen Lanke mühsam aufbaut und der sich wie kein anderer bei Berlins Linksradikalen breitmachen konnte. Jahrelang sitzt Hain in der Rechtsanwaltskanzlei von Philipp Heinisch, einem der Rechtsanwälte im Schmücker-Prozeß, und liefert sämtliche Informationen über die Strategie der Verteidiger, wichtige Informationen, die Grünhagen unumwunden an die Staatsanwälte Przytarski und Müllenbrock weitergibt. Nun wird nicht nur das publik. Auch im Untersuchungsausschuß des niedersächsischen Landtags zum "Celler Loch" kommt ein neuer Verdacht auf: Möglicherweise ist der von Grünhagen aufgebaute V-Mann Christian Hain in den vom "Amt" organisierten Sprengstoff-Anschlag vom Juli 1978 involviert, dessen Ziel es ist, für den Verfassungsschutz Spitzel in die RAF einzuschleusen.

Die Wintertage 1987 dürften für den Verfassungsschützer also eher anstrengend sein, auch wenn er viel Zeit im Urlaub verbringt. Selbst auf seinen ständigen Wegbegleiter Przytarski muß er verzichten. Der Jurist, mittlerweile avanciert zum stellvertretenden Chef des Berliner Landesamts für Verfassungsschutz, muß nach zahlreichen Skandalen, unter anderem wegen der KGB-Connection um Grünhagens Gatower Nobelvilla, den Dienst quittieren. Nun ist der Geheimdienstler praktisch schutzlos. Und dann dieser Brief von einem Abtrünnigen aus der eigenen Behörde. Wie hieß es da nochmal im Oktober 1987 im NDR-Magazin "Panorama"? "Ehe Grünhagen erneut, diesmal vielleicht für immer, untertaucht, muß gehandelt werden."

Kurz darauf erscheint in einer Springer-Zeitung eine kleine, ungewöhnliche Meldung: Michael Grünhagen, Oberamtsleiter des Berliner Landesamtes für Verfassungsschutz, ist an Hautkrebs verstorben. Der VS-Mann sei, so konkretisiert später Hans F. Birkenbeul, der Pressereferent des Innensenats, "am 19. Januar 1988 gestorben und wurde am 26. Januar 1988 beerdigt". Nach einem Eintrag der Bestattung unter dem Namen "Grünhagen" oder "Wegner" sucht man jedoch in den Büchern der Friedhofsverwaltung Gatow vergeblich, obwohl Mitarbeiter des Geheimen der Beerdigung beigewohnt haben wollen - nur ein Grabstein mit der Aufschrift "Michael 1938-1988" soll an den Verfassungsschützer erinnern.

Auch die Suche in der städtischen Bürokratie macht skeptisch. Bernd Häusler, einer der Verteidiger im Schmücker-Prozeß, durchforstet im Frühjahr 1988 alle Sterberegister West-Berlins. Das Ergebnis: In Neukölln und Charlottenburg wird Grünhagen als "noch lebend" geführt.

Auch in der Projektgruppe Verfassungsschutz, der parlamentarischen Untersuchungskommission, die sich nach der rot-grünen Amtsübernahme 1989 mit dem "Fall Schmücker" beschäftigt, ist man skeptisch und beschäftigt sich mit dem mysteriösen Tod Grünhagens. "Geradezu rührend" werde im Untersuchungsbericht geschildert, kommentiert die taz, "wie alle Mitarbeiter Grünhagens sich an den körperlichen Verfall ihres Kollegen erinnern und keinerlei Zweifel daran haben, daß er tatsächlich an Hautkrebs gestorben ist. Nachfragen über den Kollegenkreis hinaus sind aus dem Bericht nicht ersichtlich - offensichtlich wurden nicht einmal die Krankenakten des V-Mann-Führers angefordert." Ähnlich zynisch reagiert auch die Frankfurter Rundschau auf das Ableben des Geheimdienstlers: "Bekannte sagen, er habe im Spätherbst 1987 auf Gran Canaria in der Sonne geschmort, sei über Weihnachten ins Gebirge zum Skilaufen gefahren, mit seinem Hautkrebs."

Doch ob Grünhagen tatsächlich das Zeitliche gesegnet hat oder, wie auch in der Parlamentarischen Kommission zumindest erwogen wird, unter neuer Identität abtaucht, ist bis heute nicht geklärt. Möglicherweise dienen jene 300 000 Mark, die im Verfassungsschutzetat 1988 extra enthalten sind, Grünhagens neuer "Identitätsstiftung". Das zumindest vermuten die Verteidiger im Schmücker-Prozeß. Vor seinem Tod, im Herbst 1987, scheint der VS-Mann mit anderen Dingen beschäftigt zu sein, als sich im Berliner Amt um "Ausländerextremismus" zu kümmern. Über Monate, so sagten Kollegen, habe man Grünhagen nicht mehr gesehen.

Am 28. Januar 1991 stellt die Vorsitzende der 18. Strafkammer, Ingeborg Tepperwien, das Verfahren im "Mordfall Schmücker" wegen der massiven "Mitwirkung und Einwirkung des Landesamtes für Verfassungsschutz" ein. Grünhagen treffe zumindest der Vorwurf, den Mord nicht verhindert zu haben.

II.

"Hans Benz"

Der Mann vom Amt

Das erste Mal taucht er im Oktober 1985 auf. Im Hinterhof, zwischen "Mülltonnen und geparkten Autos", wie Ex-Sponti Daniel Cohn-Bendit beschreibt, steht er plötzlich da. Ein leicht untersetzter, korrekt gekleideter Mitvierziger, der einen freundlichen Eindruck macht. "Gestatten, mein Name ist Benz, ich komme vom Bundesamt für Verfassungsschutz." Im Handgepäck hat der Geheimdienstler einen Vorschlag, den der Frankfurter Pflasterstrand zwei Jahre später der linken Szene als "Angebot des Jahres" anpreist. Das Kölner Amt, so schreibt die von Cohn-Bendit herausgegebene Zeitschrift, "will RAF-Aussteiger unterstützen - ohne Gegenleistung".

Der Schritt in die Öffentlichkeit scheint der "Gruppe von Frankfurtern" um den Pflasterstrand nach mehreren Treffen mit dem Geheimdienstler unumgänglich. Denn zunächst überwiegen die Zweifel. Warum, so fragen sie sich, sollte ausgerechnet der Verfassungsschutz, nach Schmücker, Hochstein und dem "Celler Loch", "mit dem weißen Fähnchen in der Hosentasche einherspaziert" kommen? Nein, bei aller Redseligkeit des "Hans Benz", daran will niemand so recht glauben.

Das Blatt veröffentlicht also im Oktober 1987 ein Interview mit dem Verfassungsschützer - nur so könne geprüft werden, ob die Offerte seriös ist. Wenn nicht, müßte nach dem Abdruck ein Dementi von Bundesanwaltschaft oder Verfassungsschutz folgen. Das Dementi bleibt aus. Und Cohn-Bendit ermuntert: "The proof of the pudding is the eating." Eine "denunziatorische Lebensbeichte" sei nicht erforderlich, bestätigt Benz. Da seine Behörde nicht

an das Legalitätsprinzip gebunden sei, müsse er auch nicht grundsätzlich Täter der Strafverfolgung ausliefern. Der konkrete Vorschlag: "Wir können zum Beispiel zunächst über Dritte Kontakt zu einzelnen Aussteigern knüpfen, um die Möglichkeiten eines Ausstiegs auszuloten."

Für den Sinneswandel der Kölner Geheimdienstler liefert Benz schon vorher eine so einfache wie bestechend richtige Erklärung. Trotz immensem Fahndungsaufwand und drakonischen Strafen sei es den Behörden auch nach 17 Jahren nicht gelungen, der RAF und den RZ das Wasser abzugraben. Nun müßten neue Wege beschritten werden. Benz: "Jeder Ausstieg hat eine positive Signalwirkung."

Natürlich sucht der Verfassungsschützer nicht zufällig ausgerechnet bei Cohn-Bendit seinen Einstieg. Um den Frankfurter Sponti gruppiert sich schon Mitte der siebziger Jahre ein politischer Zusammenhang, die "Jemande", denen der Ausstieg von Aktivisten aus bewaffneten und militanten Gruppen am Herzen liegt. Als das RZ-Mitglied Hans-Joachim Klein im Mai 1977 via Spiegel seine Abkehr von der Guerilla öffentlich bekanntgibt, stößt er bei Cohn-Bendits Gruppe auf offene Ohren. In Kleins Revoluzzer-Memoiren "Rückkehr in die Menschlichkeit", die 1977 bei Rowohlt erscheinen, schreibt Cohn-Bendit das Nachwort. Nachdem "Klein-Klein" auch noch behauptet, er stehe auf einer "Liquidierungsliste" der RZ, sind es die "Jemande", die dem Ex-Frankfurter den Rücken stärken: "Wir kennen viele Namen. Wir würden nicht davor zurückschrecken, sie zu nennen."

Naheliegend, daß auch das "Angebot des Jahres" zuerst "Klein-Klein" offeriert wird. 1988 trifft sich Benz mit dem alten Freund Cohn-Bendits. Doch dem damals schon seit zehn Jahren untergetauchten Klein sollte das wenig nützen. Auch der Verfassungsschützer kann die Strafverfolger nicht davon abbringen, bei einer Rückkehr Kleins auf die Forderung nach lebenslänglicher Freiheitsstrafe zu verzichten. Der damals 48jährige muß also wegbleiben und wird zehn Jahre später von Beamten des Bundeskriminalamtes in einer französischen 300-Seelen-Gemeinde aufgespürt.

Dieser erste Mißerfolg kann den VS-Mann allerdings nicht erschüttern - zumal mittlerweile auch von höchster politischer Stelle auf Deeskalation gesetzt wird. Klaus Kinkel, damals noch Staatssekretär im Justizministerium, versucht während des Hungerstreiks von RAF-Gefangenen, für ihre Zusammenlegung im März 1989 zu vermitteln. Er besucht Brigitte Mohnhaupt in der Justizvollzugsanstalt Aichach. Ohne Ergebnis: "Kinkel hat erklärt, sie werden die Zusammenlegung nicht machen, auch nicht, wenn es Tote gibt", sagt die Gefangene über den Besuch. Dennoch etabliert sich unter dem Begriff "Kinkel-Initiative" der Versuch, der bewaffneten Gruppe durch Deeskalation Herr zu werden. Später wird bekannt, daß die Bundesregierung angeblich zur gleichen Zeit bereits versucht, mit der Kommandoebene der RAF in Kontakt zu kommen, um die Gruppe im Gegenzug für die Zusammenlegung auf ein Stillhalteabkommen zu verpflichten. Immer mit dabei: Hans Benz.

Schon vor Kinkel versucht der VS-Mann, mit Mohnhaupt in Kontakt zu treten, was die Gefangenen jedoch ablehnen, da sie "jemand politisch Verantwortliches als Gesprächspartner" fordern. Dabei ist es ausgerechnet Benzens Chef, der Verfassungsschutzpräsident Gerhard Boeden, der sich auch öffentlich für eine Zusammenlegung stark macht. Nicht nur, weil er dies angeblich für "human" hält. Dadurch werde schließlich auch die Märtyrerrolle der inhaftierten RAF-Leute abgebaut.

Und so gibt auch Benz nach der Absage nicht auf. Um an Illegale im Ausland heranzukommen, versucht er im Oktober 1989 ein weiteres Mal, Brigitte Mohnhaupt zu besuchen. Wieder erfolglos. "Benz soll zum Teufel gehen", läßt die Gefangene über ihren Anwalt ausrichten. Seine obersten Dienstherren vom Bundesinnenministerium haben allerdings andere Pläne. Über einen vermittelnd tätigen Rechtsanwalt erklärt sich die "Regierung der Bundesrepublik Deutschland" in einem in englischer Sprache verfaßten Brief - "to whom it concerns" - bereit, "über die Person von Herrn Benz Gespräche in jedem Land und unter jeglichen Bedingungen zu ermöglichen".

Der Geheimdienstler hat also im Apparat Oberwasser. Er avanciert zum "Chefunterhändler der BRD in Sachen Terrorismus", auch wenn seine Erfolge durch das Aussteigerprogramm auf sich warten lassen. Ganz so freundlich und offen, wie er sich damals im Frankfurter Hinterhof gibt, reagiert Benz freilich nicht auf die negative Reaktion aus den Knästen. Im Gegenteil: Als ob er mit dieser Art von "Bearbeitung" von Gefangenen schon reichlich Erfahrung hat, läßt er Mohnhaupt und den anderen RAF-Inhaftierten ausrichten, es gäbe keine Zusammenlegung und auch sonst keine Veränderung, solange sie nicht mit dem Verfassungsschutz redeten.

Aber ohnehin muß sich Benz zunächst um eine andere Aufgabe kümmern. Den in der DDR verhafteten Ex-RAF-Mitgliedern soll der Verfassungsschützer die Kronzeugen-Regelung erläutern. Nicht ohne Erfolg: Während die "DDR-Aussteiger" nach umfangreichen Aussagen fast durchgehend ungewöhnlich schnell den Knast verlassen können, werden bereits jahrelang einsitzende RAF-Gefangene zu weiteren hohen Haftstrafen verurteilt. So verhängt das Frankfurter Oberlandesgericht gegen Rolf-Clemens Wagner im November 1993 wegen seiner angeblichen Beteiligung an einem Anschlag auf den Nato-Oberbefehlshaber Alexander Haig eine Strafe von zwölf Jahre Haft. Die Grundlage: Aussagen der DDR-Aussteiger Werner Lotze und Ralf Baptist Friedrich.

Vor seiner Aussage trifft sich Friedrich mit Benz in einem Wiesbadener Café, wo ihm der Geheimdienstler die Kronzeugenregelung erklärt. Was bei diesem Gespräch tatsächlich alles beredet wird, ob etwa und in welchem Ausmaß der Verfassungsschützer Strafmilderungen anbietet, bleibt bis heute im dunkeln. Friedrich kann sich zwar sehr gut an Wagners Beteiligung am RAF-Anschlag im Jahre 1979 erinnern, das kurz vor dem Prozeß geführte Gespräch mit dem VS-Mann hat bei ihm aber offenbar immense Gedächtnislücken hinterlassen. Auch Benz selbst, der ausnahmsweise vor Gericht aussagen muß, hält sich freilich bedeckt.

Ganz die Plaudertasche, monologisiert er vor den Frankfurter Richtern. Als jedoch die Frage der Verteidigerin Heike Krause fällt, wie lange er sich denn mit Friedrich in dem Café unterhalten hat, kann auch er sich nicht entsinnen. "Plötzlich ließ sich Benz schon durch ganz banale Fragen verunsichern", erinnert sich Wagners Rechtsanwältin.

Inzwischen sind alle Versuche von RAF und Staatsapparat gescheitert, auf "diplomatischem" Weg zu einer Beendigung der Auseinandersetzung zu kommen - sofern den staatlichen Behörden ernsthaftes Interesse an einer solchen Lösung überhaupt unterstellt werden kann. Denn während die RAF ankündigt, die Eskalation zurückzunehmen und "Angriffe auf führende Repräsentanten aus Wirtschaft und Staat für den jetzt notwendigen Prozeß einzustellen", lassen Zugeständnisse seitens des Staates an die Gefangenen auf sich warten.

Für diese Ignoranz gibt es eine einfache Erklärung: Spätestens im April 1992 ist man auf höchster Ebene darüber informiert, daß der Verfassungsschutzspitzel Klaus Steinmetz die Fahnder zum Kern der RAF führen könnte. Nachdem dann tatsächlich Wolfgang Grams in Bad Kleinen von Bundesgrenzschützern aller Wahrscheinlichkeit nach ermordet und Birgit Hogefeld verhaftet wird, ist der Ofen endgültig aus. Von der Kinkel-Initiative spricht keiner mehr. Benz allerdings agiert auf seine Weise weiter: Kaum erhält Hogefeld einen Haftbefehl wegen Mordes, steht der Verfassungsschützer Gewehr bei Fuß und bietet ihr an, es sei möglich, "die Mordanklage Bad Kleinen zu kippen". Entsprechende Gegenleistungen freilich vorausgesetzt.

Doch Benz fühlt sich mittlerweile wohl weniger hinter deutschen Gefängnismauern als in der großen weiten Welt zu Hause. Etwa zeitgleich mit seinen Versuchen, die RAF-Gefangenen zur Denunziation zu bewegen, fährt er mit dem Duisburger Rechtsanwalt Schwab nach Nicaragua. Dort treffen sie die im Zusammenhang mit der RZ/Rote Zora abgetauchte und gesuchte Barbara Dulisch, um mit ihr gemeinsam zurück in die Bundesrepublik zu fliegen. Zwar gibt es bei einer Zwischenlandung in den USA Probleme mit den Behörden, die aber kann Benz, wenn auch mit reichlich nervösem Habitus, wie sich Schwab erinnert, dank seiner guten Kontakte klären. Nachdem sie vor der Bundesanwaltschaft Aussagen macht, kann Dulisch die Behörde als "freie" Frau verlassen. Der erste, wenn auch sehr kleine Erfolg für Benz in Sachen "Rückführung".

Etwa ein Jahr später meldet sich die wegen RZ/Rote Zora-Mitgliedschaft gesuchte Corinna Kawaters mit ihrem Freund Wolfgang Ehmer bei den Karlsruher Bundesanwälten. Auch sie reisen mit Hilfe des Geheimdienstlers nach Deutschland ein, erklären sich aber im Gegensatz zu Dulisch später öffentlich zu diesem in der Linken umstrittenen Schritt: "Die Tatsache, daß ein Befriedungsprogramm zur Entsolidarisierung oder Distanzierung beiträgt, reicht nicht aus, auf Prinzipien zu verharren, die die weitere Ausgrenzung der Illegalen festschreiben und ihre subjektive Situation unberücksichtigt lassen." Zwar macht Kawaters keine Aussagen über andere Personen, dennoch stößt die Entscheidung der beiden nicht nur auf Zustimmung.

So kritisiert Uli Dillmann, der nach acht Jahren ohne die Hilfe des Verfassungsschutzes nach Deutschland zurückkehren kann, "die Vorbedingung für ein möglicherweise moderates Vorgehen der Justiz" sei, "daß jemand 'freiwillig' wieder auftaucht, sich zur Anklage äußert und vor Gericht erscheint". Dabei werde nicht nur das zu erwartende Strafmaß, sondern auch der Umfang der Einlassung zur Anklage im Vorfeld über Benz "abgekaspert". Dillmann kann natürlich aus einer günstigen Position reden, denn er muß keine Verurteilung mehr fürchten. Kurz vor seiner Rückkehr stellen die Verfolgungsbehörden die Ermittlungen gegen den Kölner ein. Kawaters wird vom Stuttgarter Landgericht zu einer Bewährungsstrafe von 18 Monaten verknackt. Ein verhältnismäßig günstiges Urteil, schließlich ist sie der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung angeklagt.

Dennoch: Auch den "Fall Kawaters" muß Benz wohl eher unter der Rubrik "Kleine Fische" abbuchen. Sein erster großer Coup gelingt ihm mit der Rückkehr der Carlos-Gattin Magdalena Kopp. Kaum ist der als "Top-Terrorist" gehandelte Carlos verhaftet, ruft Benz bei der Mutter eines Mädchens in Caracas an und bittet um eine Verabredung. Daraus werden einige Treffen, und nachdem der Geheimdienstler der Frau neue Papiere beschafft, kehrt sie im Dezember 1995 ins schwäbische Ulm zurück. Gegenüber den deutschen Strafverfolgern plaudert sie allerlei Wissenswertes über ihren Ehemann aus - zum Dank stellen die Behörden das Verfahren gegen sie ein.

Der wirkliche Durchbruch für Benz folgt aber erst, als es ihm im November 1996 gelingt, den wegen des RAF-Attentats auf den Deutsche-Bank-Chef Alfred Herrhausen gesuchten Christoph Seidler bei seiner Rückkehr zu helfen. Weniger in der linken Szene, um so mehr aber bei den deutschen Strafverfolgern stößt dieser Schritt auf große Mißgunst: Mit Seidlers Wiederkehr wird offensichtlich, daß weder Bundesanwaltschaft noch Bundeskriminalamt seit einem guten Dutzend Jahren keinen blassen Schimmer mehr über die tatsächliche personelle Zusammensetzung der RAF haben. Mit Hilfe des Geheimdienstlers kann Seidler nachweisen, daß er sich seit langem im Libanon aufhält und am Anschlag auf Herrhausen nicht beteiligt gewesen sein kann. Der Haftbefehl wird aufgehoben, Seidler muß keine Aussagen machen, die andere direkt belasten können.

In der Folge kommt kurzfristig die Überlegung auf, das mittlerweile Deeskalationsprogramm genannte Konzept zu kippen. Benzens Widersacher können sich allerdings nicht durchsetzen: Die sogenannte Sicherheitslage im Kanzleramt, in der sich wöchentlich die Chefs des Bundesnachrichtendienstes, des Bundeskriminalamtes, der Bundesanwaltschaft und des Militärischen Abschirmdienstes treffen, beschließt am 3. Dezember 1996 die Weiterführung des VS-Programms.

Auch in der Linken regt sich, wenn auch sehr verhalten, Kritik an Seidlers Entscheidung, mit dem Verfassungsschützer zusammenzuarbeiten. Thomas Simon etwa, der selbst Mitte der Achtziger abtaucht und wahrheitswidrig der RAF zugeordnet wird, beschreibt in einem ausführlichen Interview, wie Benz ihn jahrelang im Ausland unter Druck setzte. Um den Gesuchten zu treffen, setzt Benz auf emotionale Bindung. Simon: "Meinem Anwalt erzählte er einmal, daß mein türkischer Freund Marc Rudin im türkischen Gefängnis große gesundheitliche Probleme hätte, ob ich ihm nicht helfen wolle. Benz könne wohl seinen Einfluß geltend machen. Dafür hätte ich mich aber mit Benz treffen müssen." Auch noch, nachdem Simon ohne VS-Unterstützung wieder auftaucht, läßt ihn der VS-Mann nicht in Ruhe: Um an Illegale aus der RAF heranzukommen, schickte er ihm "Leute ins Haus, bei denen er emotionale Hoffnungen weckte".

Über die Rolle des Geheimdienstlers macht sich allerdings auch Seidler keine Illusionen. Auch er ist sich selbstkritisch des Selektionsprinzips bewußt, mit dem Benz im Namen der Verfolgungsbehörden auf Jagd geht. "Wer nicht kommt, hat Dreck am Stecken", schätzt er die Strategie des Verfassungsschützers ein. "So gesehen, handelt es sich noch nicht einmal um ein Aussteigerprogramm. Ich kann mir nicht vorstellen, daß jemand, der tatsächlich in der RAF organisiert war, davon einen Nutzen haben kann."