Experiment in Germany

Saul K. Padovers Protokolle aus dem besiegten Nazi-Deutschland

Es dürfte kein Zufall sein, teilt der Eichborn-Verlag mit, daß es immerhin 53 Jahre gedauert hat, bis die Recherchen Saul K. Padovers in Deutschland erscheinen konnten. Und damit dürfte der Verlag, der Padovers Protokolle aus dem besiegten Deutschland in den Jahren 1944/45 jetzt unter dem Titel "Lügendetektor" veröffentlicht hat, wahrscheinlich auch recht haben.

1905 als Sohn jüdischer Eltern in Wien geboren, wanderte Padover 1920 in die USA aus und wurde 1938 persönlicher Referent des Innenministers. 1943 wechselte er in die Abteilung für Psychologische Kriegsführung nach London, in deren Auftrag der damals 40jährige Offizier der US-Armee erforschen sollte, was in den Köpfen der besiegten Deutschen vorging.

Padover verhörte und interviewte Menschen aus allen gesellschaftlichen Gruppierungen, vom hochrangigen Nazifunktionär bis zum kommunistischen Widerstandskämpfer, vor allem aber sprach er mit jenen, die von sich behaupteten, nichts mit der Ideologie des Nationalsozialismus und dessen Verbrechen zu tun gehabt zu haben, mit Kirchenvertretern, Wehrmachtsoldaten, Industriellen, Wissenschaftlern, Kaufleuten, Handwerkern, Hausfrauen, Bauern und Bergleuten. Sein Arbeitsbereich waren die Frontgebiete, in denen die US-amerikanischen Truppen von Frankreich und Belgien aus nach Deutschland vorstießen, seine Studie umfaßt die Zeit von Ende 1944 bis zum Tag der Kapitulation am 8. Mai 1945.

Aufschlußreich für die Situation des noch nicht endgültig besiegten Deutschlands sind nicht nur die Beobachtungen Padovers, die er gewissenhaft protokolliert, sondern auch seine Einschätzungen und Prognosen über den weiteren Verlauf des Krieges. Schließlich recherchierte Padover in einer Phase, als noch keineswegs klar war, wie und wann der Krieg enden würde.

Die vordringlichste Aufgabe des Offiziers bestand darin, herauszufinden, inwieweit von deutscher Seite Widerstand gegen die Alliierten zu erwarten war und wie man nach einem Sieg mit ihnen umzugehen habe. Die Aufzeichnungen beginnen im Herbst 1944: "Im September 1944 befanden sich die Deutschen überall in Frankreich auf dem Rückzug. Frankreich, Europa, die ganze Welt atmete erleichtert auf. (...)

Eines Abends, es muß Mitte September gewesen sein, als wir in den Wäldern vor Verdun in unseren regennassen Zelten hockten, wettete ein Angehöriger unserer Einheit, ein 'Deutschlandspezialist', fünfzig Dollar, daß der Krieg spätestens am 15. Oktober beendet sei. 'Die Deutschen', sagte er mit jener Entschiedenheit, die nur auf massiver Ignoranz beruht, 'können keine weiteren Schläge mehr verkraften. Solche Niederlagen kann die Nazidiktatur nicht überleben.' Nur Leutnant Leonid Gran ließ sich kühn auf die Wette ein. Gran war der Pessimist in unserer Einheit. Seiner Ansicht nach würde der Krieg noch mindestens bis November dauern."

Padover und sein Kollege, die beide deutsch sprachen, folgten den Panzern in kurzem Abstand und verhörten den Feind, Ort für Ort, direkt hinter dem Frontverlauf: Ein paar Tausend Menschen, zumeist Zivilisten, wurden von ihnen vernommen, und besonders interessierten sich die Alliierten für jene Deutschen, die keine Nazis waren - nicht zuletzt, weil es darum ging, sie als Funktionsträger in den befreiten Gebieten einzusetzen.

Dieser Aspekt ist der spannendste in Padovers Buch, und das Ergebnis dieser Recherche ist wohl einer der Gründe, weshalb sich bislang kein deutscher Verlag für die Aufzeichnungen interessiert hat: Zu Beginn seiner Untersuchungen geht Padover noch von der Annahme aus, daß es überall in Nazi-Deutschland Widerstand oder innere Emigration gegeben habe müsse. Doch Deutsche, die, wenn sie schon keine erklärten Nazi-Gegner, so doch resistent gegenüber der Ideologie waren, trifft Padover nur selten, und er muß Tag für Tag, Woche für Woche, seine Erwartungen und Vorstellungen über die ganz normalen Deutschen revidieren, auch wenn sich viele seiner Gesprächspartner alle Mühe geben, dem Offizier zu gefallen.

Padover erlebt Anbiederung und Selbstmitleid von seiten der Deutschen; vor allem aber stößt er immer wieder auf eine Haltung, die ihn bereits Ende 1944 ein Fazit ziehen läßt, das ähnlich ausfällt wie jenes, das fünfzig Jahre später Daniel J. Goldhagen in seinem Buch "Hitlers willige Vollstrecker" zieht und damit eine erbitterte politische Debatten auslöst. Es gibt, so Padover, offenkundig einen Zusammenhang zwischen diesen "guten" Deutschen und der Vernichtungspolitik des Nationalsozialismus, mehr noch: Es besteht eine "logische Verbindung", notiert Padover 1945 im gerade befreiten Gebiet in der Nähe der französischen Grenze.

Die Kommentare des Offiziers sind spürbar geprägt von dem Erschrecken über die Gleichgültigkeit, mit denen die Befragten auf den Holocaust reagieren. Padover wird im Laufe der neun Monate seiner Tätigkeit zu einem Antideutschen, gleichwohl ist er von der Masse der Mitläufer so nachhaltig irritiert, daß er schließlich sogar an seinen eigenen Beobachtungen zu zweifeln beginnt, und das, was er in den Vernehmungen erfahren hat, kaum glauben kann.

Als hartherzig und unbelehrbar beschreibt er die Deutschen, als egoistisch und geduckt. "Fast alle, die dem Naziregime ablehnend gegenüberstehen, klagen darüber, wie schwer sie es hatten. Sie fließen über vor Selbstmitleid. Diese Larmoyanz ist eine mehr oder weniger unbewußte Methode zur Rechtfertigung des eigenen Mitläufertums. In all den Kriegsjahren waren die Deutschen die wohlgenährtesten Leute in Europa, und bis auf die Ausgebombten und Flüchtlinge haben sie weniger gelitten als alle anderen europäischen Völker. Trotzdem klagen sie unablässig."

Zwischendurch fertigt Padover Statistiken über einzelne kleine Orte an - auch, um der Nazi-Propaganda über die Höhe der deutschen Verluste entgegenzutreten. Er trifft schließlich auch auf - zwei - Widerstandskämpfer und auf einige Leute, denen er soweit vertraut, daß er sie für das Amt des Bürgermeisters und als Zeitungsherausgeber vorschlägt.

Aufschlußreich ist ebenfalls sein Bericht über die Vergewaltigungen in der Zeitspanne zwischen 1944 und 1945, der Details enthält, die in der offiziellen Geschichtsschreibung gerne unterschlagen wurden: Es waren keineswegs, wie immer wieder kolportiert wurde, allein die sowjetischen Soldaten, die Frauen vergewaltigten, sondern auch Angehörige der alliierten Streitmächte sowie Soldaten der Wehrmacht. Padover, der zugleich dafür zuständig war, die Angehörigen der USArmee zu kontrollieren, vertritt die Ansicht, daß sexuelle Gewalt von der Logik des Krieges nicht zu trennen sei.

Zugleich wendet er sich damit gegen einen bigotten Umgang mit dem Thema und damit auch gegen die Versuche der US-Armee, die Vergewaltigungen zu vertuschen. "Krieg", so die saloppe Analyse des Offiziers, "besteht zu einem Zehntel aus Ungemach und zu neun Zehnteln aus Stumpfsinn, und die sexuellen Bedürfnisse der Soldaten werden vor allem durch die Langeweile geweckt."

Die Aufzeichnungen enden im Mai 1945. Padover nimmt teil an einem großen Besäufnis zwischen sowjetischen und US-amerikanischen Militärs, das aus Anlaß der Kapitulation Deutschlands in Torgau abgehalten wurde. Zuvor war er im befreiten Buchenwald gewesen und hatte dort beschlossen, Deutschland zu verlassen.

Eine Szene, die sich in Buchenwald abgespielt hat, erscheint typisch für die Erlebnisse des Offiziers im besiegten Deutschland. "Ich sprach", so Padover, "mit einem kleinen deutschen Kommunisten, der der Lagerleitung angehört hatte; insgesamt dreizehn Jahre war er im KZ gewesen und hatte irgendwie überlebt.

Ein Häftling, der auf seinem gestreiften Anzug ein großes 'P' trug, kam mit einem Arm voll Kleidern vorbei, die er offensichtlich in der Nachbarschaft gestohlen hatte. Der kleine deutsche Kommunist regte sich furchtbar auf und empörte sich über diesen Plünderer. Der Pole ignorierte ihn, aber ich fragte den Deutschen, weshalb ein ausländischer Zwangsarbeiter sich die Sachen, die er benötigte, nicht organisieren dürfe. 'Ja', brummte der Kommunist, 'aber man muß ordentlich sein.' Ich sagte, wenn er nicht selber unter den Nazis gelitten hätte, würde ich ihm eine runterhauen. Der Deutsche wich erschrocken zurück und wiederholte: 'Man muß immer ordentlich sein.'"

Saul K. Padover: Lügendetektor. Vernehmungen im besiegten Deutschland 1944/45. Eichborn, Frankfurt/M. 1999, 340 S., DM 44