René Talbot

»Die NS-Psychiatrie wird aufgewertet«

René Talbot ist Pressesprecher des Bundesverbandes Psychiatrie-Erfahrener in Deutschland. Er gehört dem Vorstand des Landesverbandes Berlin-Brandenburg an und zählt zu den Koordinatoren der dreitägigen Gegenveranstaltungen zum 11. Weltkongreß für Psychiatrie, der vom 6. bis zum 11. August 1999 in Hamburg stattfand.

Ihre Organisation forderte gemeinsam mit Ihrem Partnerverband Israeli Association Against Psychiatric Assault, daß der Weltkongreß für Psychiatrie keinesfalls in Deutschland durchgeführt werden dürfe. Dies ist nun doch geschehen. Geht es bei Ihrer Kritik nur um den Standort Deutschland oder auch um die Themen der Mammutveranstaltung?

Primär geht es uns um den Standort. Wir halten die Entscheidung des Weltverbandes für Psychiatrie für ein Stück Geschichtsrevisionismus, wie er schlimmer kaum sein kann. Nach wie vor ist völlig unaufgearbeitet und in der Öffentlichkeit unbekannt, wie eng die Traditionen und Ideologien der deutschen Psychiatrie mit der Nazizeit verwoben sind. Die deutsche Psychiatrie wird mit dem Weltkongreß aufgewertet und reingewaschen, obgleich es bisher keinerlei wirklichen Bruch gegeben hat, keine Distanzierung von den Tätern bis 1945 und nach 1945.

Heutige Psychiatrie in Deutschland ist wohl kaum gleichzusetzen mit den Massenmorden an psychisch Kranken zwischen 1933 und 1945. Und gerade das - Psychiatrie während des Nationalsozialismus - ist doch auch Thema einer begleitenden Ausstellung während des Weltkongresses.

Richtig. Die Ausstellung ist sogar nicht einmal schlecht, aber sie hat vor dem Hintergrund der politischen Bedeutung der Entscheidung für den Kongreßort in Deutschland nicht mehr als Alibi-Charakter. Zum einen wurde sie überhaupt nur recht kurzfristig geplant und organisiert, nachdem wir unseren Protest angekündigt hatten. Vor allem aber setzt sie sich nicht wirklich mit dem auseinander, was deutsche Psychiatrie ausmacht: Mit der Ausstellung wird eine Form des Erinnerns gewählt, die das Vergessen organisieren soll.

Was meinen Sie mit diesem Vorwurf?

Die deutsche Psychiatrie hat eng zu tun mit der NS-Ideologie. Zwischen 1933 und 1945 ist nichts geschehen, was nicht lange zuvor schon von Psychiatern gefordert worden wäre. Der Historiker Ernst Klee hat das in seinem Vortrag auf unserer Gegenveranstaltung am 6. August an vielen Beispielen belegt: Es gab keinen einzigen Psychiater in Deutschland, der sich gegen die Massenmorde und Menschenversuche wandte. Sämtliche Direktoren der damaligen Anstalten - Gütersloh, Grafeneck, Neuendettelsau, Wittekindshof, Wittenau, Kaufbeuren, Brandenburg-Görden, Herborn, Werneck, Großschweidnitz, Hadamar, die Liste ist unvollständig - waren begeisterte Anhänger der "Behandlungsmethode" Mord. Und aus fast allen von ihnen ist auch später noch etwas geworden: Der Brandenburger Direktor Hans Heinze zum Beispiel wurde nach 1945 Leiter der Jugendpsychiatrie in Wunstorf. Von Julius Hallervorden, nach 1945 Abteilungsleiter am Max-Planck-Institut für Hirnforschung, wissen wir, daß er seine Forschungen weitgehend an vergasten behinderten Kindern vorgenommen hat; allein 1942 sezierte er mehr als fünfhundert. Auch diese Liste könnte ich lange weiterführen. In den Jahren 1940/41 wurden in sechs Vergasungsanstalten nachweislich 70 273 Menschen ermordet - organisiert über die Zentralstelle T4. Insgesamt wurden bis 1945 in den psychiatrischen Anstalten und Heimen Deutschlands und der besetzten Gebiete mindestens 275 000 eingesperrte Menschen umgebracht. Das sind die Zahlen des Militärgerichtshofes in Nürnberg.

Zusammenfassend kann man sagen: Die deutsche Psychiatrie wurde nicht von den Nazis mißbraucht, sondern sie selbst brauchte die Nazis. Das Morden der Nazis in den Vernichtungslagern basierte auf einer psychiatrischen Ideologie. Die Verbrechen, die auf dieser Ideologie beruhen, wurden zuerst von deutschen Psychiatern als "Euthanasie"-Morde begangen - dem Modell für den Massenmord an den Juden, Sinti und Roma, Schwulen und anderen sogenannten "unerwünschten gesellschaftlichen Elementen".

Die Ermordung von Behinderten im Nationalsozialismus wurde bis heute nicht angemessen verurteilt und zurückgewiesen. Ist es auch noch nach 50 Jahren aus diesem Grunde falsch, in Deutschland eine internationale Veranstaltung abzuhalten?

Ja. Der Kongreßort in Deutschland stellt eine Anerkennung der deutschen Psychiatrie dar - und zwar, da es keine wirkliche Abgrenzung gegeben hat, mit ihrer, mit genau dieser, NS-Tradition. Niemals hat es auch nur ein einziges öffentliches Schuldanerkenntnis gegeben, keine Geste wie den Kniefall von Brandt am Denkmal des Warschauer Ghettos.

Wenn der Weltkongreß für Psychiatrie nun in Deutschland tagt, wissen die Verantwortlichen das selbstverständlich. Es ist nur als ein Affront zu verstehen, wenn es nicht eine einzige Einladung an die Opfer gab. Nicht einmal der Bundesverband der Euthanasieopfer und Zwangssterilisierten wurde zur Teilnahme aufgefordert.

Und noch ein weiterer Gesichtspunkt: Völlig unaufgearbeitet und verleugnet wird die Tatsache, daß es innerhalb der deutschen Psychiatrie auch nach Ende der Nazi-Herrschaft noch Ermordungen gegeben hat. Die sogenannten Hungermorde zwischen 1945 und 1948 - insgesamt schätzungsweise 20 000 Menschen in Anstalten - werden ignoriert. Ernst Klee ist einer der wenigen Forscher, die sich mit diesem Thema beschäftigen und eine erschreckende Bilanz ziehen.

Unterschied sich die deutsche Psychiatrie Ende der vierziger Jahre von der anderer Länder?

Soweit wir wissen, eindeutig. Es gab weder während noch vor, noch nach der Nazizeit ein Land, in dem wie in Deutschland - staatlich organisiert, öffentlich geduldet oder gar erwünscht - Massenmord im Bereich der Psychiatrie als "Normalität" existierte. Auch deshalb ist Hamburg als Kongreßort für den international mächtigsten Psychiatrieverband ein Skandal.

Angenommen, die Kongreß-Organisatoren hätten Ihre Forderung akzeptiert und den 11. Weltkongreß aus Deutschland verlegt - nach Dänemark zum Beispiel. Was dann?

Dann hätten wir trotzdem gefordert, daß das Hungermorden nach 1945, daß der ideologische Hintergrund des Nazisystems als psychiatrisch-medizinisches System, daß die Traditionslinien der deutschen Psychiatrie öffentlich diskutiert und bearbeitet werden müssen. Und wenn das dann geschehen wäre, könnte man vielleicht akzeptieren, daß ein solcher Kongreß auch in Deutschland stattfindet, ohne daß dies eine Rehabilitation der Täter bedeutete. Das ist im übrigen auch der Hintergrund für unsere Zusammenarbeitet mit dem israelischen Betroffenenverband. Die Israeli Association Against Psychiatric Assault kritisiert vor allem auch die in Hamburg teilnehmenden israelischen Psychiater. Daß sie nach Deutschland kommen und die Entscheidung der Organisatoren nicht boykottieren, wird von ihren Mitgliedern mit Enttäuschung registriert.

Für Außenstehende oder Nichtinformierte wirkt die Selbstdarstellung der Kongreßorganisatoren eher fortschrittlich. "Psychiatrie an der Schwelle des neuen Jahrtausends" heißt das Motto, und Hauptschwerpunkte sollen eine Kampagne gegen die Stigmatisierung und Diskriminierung psychisch Kranker und die Darstellung der psychischen Folgen von Krieg, Folter und Verfolgung sein. Dagegen kann man doch schwerlich etwas einwenden?

Der reine Hohn ist das! - Nein, der Weltverband für Psychiatrie ist keineswegs eine fortschrittliche Organisation! Es geht - das haben die Veranstalter ja auch deutlich benannt - vor allem um eine Verbesserung des angeblichen Negativ-Images der Fachverbände. Und wenn die Gruppe, die genau die Diskriminierung der Betroffenen organisiert hat und organisiert, nun behauptet, sie wolle unsere Diskriminierung bekämpfen, dann ist das wirklich haarsträubend! Das ist so, als würde der Ku-Klux-Clan eine Kampagne gegen die Diskriminierung der Schwarzen organisieren! Genauso provokant ist es, daß hier über Folter geredet wird - da macht man den Teufel zum Beelzebub. In der heutigen Psychiatrie werden nach wie vor körperliche Eingriffe gegen den Willen der Betroffenen durchgeführt, auch Elektroschocks. Das ist Folter! Auch wenn die Opfer vorher betäubt werden.

Sie haben vor einigen Jahren nicht kritisiert, daß der Weltkongreß der Sozialpsychiatrie ebenfalls in Deutschland - in Hamburg - durchgeführt wurde. Was unterscheidet den jetzigen von dem 1994?

Der sozialpsychiatrische Weltkongreß "Abschied von Babylon" wurde gemeinsam mit Betroffenen vorbereitet und setzte sich sehr ausführlich mit den Traditionslinien innerhalb der Psychiatrie auseinander. Zudem wurde er nicht als Kongreß der Pharmaindustrie durchgeführt. Das bedeutete auch eine inhaltliche Entscheidung, gerade im Bereich der Psychiatrie, weitgehend ohne Sponsoring der Arzneimittelmultis auszukommen.

Ist das ein weitere grundsätzlicher Kritikpunkt am diesjährigen Weltkongreß in Hamburg? Ganz ketzerisch gefragt: Warum nicht Geld von der Pharmaindustrie nehmen, wenn es denn einer guten Sache diente?

Der 11. Weltkongreß für Psychiatrie ist eine riesige Pharma-Werbeshow. Ausstellungen, Pressekonferenzen, viele Veranstaltungen werden von der Pharmaindustrie getragen. Und das ist auch kein Zufall, sondern Inhalt. Mit anderen Worten, eine grundsätzliche Kritik wert.

Es wäre in Ordnung, wenn Pharmaka in der Psychiatrie nicht mit Zwang und Gewalt verteilt würden. Es handelt sich um Drogen wie alle anderen bewußtseinsverändernden Drogen auch. Aber die Pharmaindustrie als Drogendealer verfügt über eine Zwangsdrogierungs-Mafia, und zwar eine gesellschaftlich anerkannte. Gelder aus diesem Bereich sind deshalb von Übel, weil sie nicht nur Abhängigkeiten schaffen, sondern auf einen biologistischen Ansatz verweisen, auf ein Krankheitsbild, das wir zurückweisen.

Sie kämpfen hier in Hamburg wie David gegen Goliath: Ein paar Hundert Kritikerinnen und Kritiker gegen 10 000 Kongreßteilnehmer, die pro Person 950 Mark Tagungsgebühr zahlen, um dabei zu sein ... Sehen Sie in Ihren Gegenaktionen eine Chance, etwas zu bewegen?

Das einzige, das uns gelingen konnte und auch gelungen ist: Wir haben dokumentiert und repräsentiert, daß es einen unüberbrückbaren Dissens gibt zwischen Betroffenen und denen, die vorgeben, unsere Stigmatisierung bekämpfen zu wollen.