Ein Paradies für Konzerne

Die Aufhebung der Öffnungszeiten bedeutet einen weiteren Abbau demokratischer Rechte.

Die Linke gibt sich gern modern, und wie der Kampf gegen den langen Donnerstag, die Deregulierung der Ladenöffnungszeiten 1996 und die aktuellen Auseinandersetzungen zeigt, schweigt sie zu derart "konservativen" Auseinandersetzungen. Lieber gehen Linke am Sonntag selbst einkaufen, als daß sie sich mit dem Kampf der VerkäuferInnen solidarisieren.

Wenn die Linke reflektieren würde, worum es in der aktuellen Auseinandersetzung geht, dann müßte sie - soweit sie sich nicht wie die Mehrheit der Grünen und der Sozialdemokraten das letzte Stück Hirn durch die Nato hat wegbomben lassen - den Widerstand der Gewerkschaft hbv gegen die Demontage des Ladenschlußgesetzes aktiv unterstützen.

"Acht Stunden Bildung - Acht Stunden Ausruhen - Acht Stunden Arbeiten" - seit Mitte des vorigen Jahrhunderts hat die ArbeiterInnen- und Gewerkschaftsbewegung für die Durchsetzung dieses Ziels gekämpft. Am Ende des 20. Jahrhunderts muß jedoch konstatiert werden, daß die Arbeitszeiten zwar verkürzt, der Arbeitstag bzw. die Arbeitswoche für meisten abhängig Beschäftigten immer grenzenloser werden. Gemeinsam versuchen Politik, Wirtschaftsverbände und Konzerne, den Menschen zunehmend die Verfügung über die eigene Zeit zu stehlen.

Um die Profite zu steigern und den "Standort Deutschland" zu sichern, sollen mehr als acht Millionen Menschen (VerkäuferInnen und ihr familiäres Umfeld) die Frei-Zeit, Familien-Zeit, Sozial-Zeit, Kultur-Zeit und auch die Zeit, um sich gemeinsam mit anderen in gesellschaftliche Prozesse einzumischen, geraubt werden. Wird dieser Prozeß nicht gestoppt, so wird er auf andere Branchen übergreifen und erhebliche Konsequenzen für die Kultur dieses Landes haben. Nicht nur, daß die individuellen Entfaltungsmöglichkeiten, die nun mal beim Menschen im wesentlichen davon abhängig sind, daß er ein soziales Wesen ist, enorm reduziert werden. Auch die demokratischen Rechte werden damit weiter eingeschränkt.

In Deutschland ist Zivilcourage nur schwach ausgeprägt und wird, wo sie gezeigt wird - wie beispielsweise gegen Faschismus und Rassismus -, eher reglementiert und kriminalisiert. Durch die Ausweitung und Deregulierung des Arbeitstages werden die Möglichkeiten, Widerstand zu organisieren, noch zusätzlich eingeschränkt. Und so ist es auch kein Zufall, daß das Geschrei nach Liberalisierung vor allem in der Industrie- und Handelskammer, die selbst ein Relikt autoritärer Strukturen ist, die stärkste Unterstützung findet. Sie ist eine Zwangsorganisation und einer der wichtigsten Interessenverbände der Kapitaleigner.

Die Sieger der Novellierung des Ladenschlußgesetzes 1996 waren die Großkonzerne. So gehören Kaufhäuser wie Kaufhof und Horten (beide Metro) zu den Hauptbetreibern der Demontage des Ladenschlusses.

Für sie ist die Liberalisierung ein Gewinn. Die Produktivität wurde durch weiteren massiven Personalabbau erhöht - seit der letzten Novellierung wurden mehr als 200 000 Vollzeitarbeitplätze vernichtet und das Arbeitszeitvolumen, "natürlich" ohne Gehaltsausgleich, um 10,7 Prozent gesenkt. Die letzten kleinen und mittleren Handelsbetriebe wurden vom Markt gefegt. Daß die faktische Demontage in Ostdeutschland erfolgt, ist kein Zufall. Die Konzerne haben bekanntermaßen nur eine funktionale Beziehung zu politischen Systemen - wo sich am leichtesten Gewinne machen lassen, da fühlen sie sich wohl. Ob es sich dabei um eine repräsentative Demokratie wie in Deutschland oder um Diktaturen handelt, ist dabei nur nebensächlich.

Ostdeutschland stellt keines der drei genannten Systeme dar. Es ist eine repräsentative Demokratie ohne Repräsentanten und selbst aus der Sicht von Befürworter des bundesdeutschen Systems mit massiven Demokratiedefiziten behaftet. Geradezu ein Paradies für gesellschaftliche Kräfte, die geltendes Recht zerschlagen wollen. Rassismus und neofaschistisches Gedankengut können ohne demokratischen Widerstand gut gedeihen. Ihre Gegner werden von Parteien, Medien und Sicherheitsorganen zum eigentlichen Problem erklärt, während sich gleichzeitig die "national befreiten Zonen" ausbreiten. Ebenso setzen die Deregulierer und Zeitdiebe auf fehlendes Widerstands- und Rechtsbewußtsein, um gegen ArbeitnehmerInnenschutzrechte zu putschen. Denn die derzeitigen Vorgänge kann man nur als "Putsch" bezeichnen.

Ladendiebstahl oder ein Graffito sind nach Auffassung sozialdemokratischer Bürgermeister (Halle), Kaufhof-Geschäftsführer oder sozialdemokratischer und konservativer Ministerien ein Verbrechen, während der offene Gesetzesbruch durch Sonderöffnungen an Sonntagen und der Diebstahl an der Lebens-Zeit der VerkäuferInnen zum Kavaliersdelikt erklärt werden.

Westdeutsche Konzerne bereiten mit Hilfe ostdeutscher Genügsamkeit die von "Schutzrechten befreiten Zonen" vor, die bald auf die ganze Republik ausgeweitet werden. Es sei denn, aus Genügsamkeit wird Widerstand und die verbliebene Linke schluckt doch noch ein paar "Hallo-Wach"-Tabletten.

Der Autor ist Landesvorsitzender der Gewerkschaft hbv in Thüringen