Bebende Reaktoren

Die türkische Regierung plant den Bau eines AKW nahe einer Erdbebenzone

Die radioaktive Wolke würde zuerst die türkische Millionenstadt Adana und den Golf von Iskenderun verseuchen. Nach 36 Stunden wären Syrien und der Libanon, binnen 72 Stunden Zypern erreicht. Im Winter wären durch veränderte Windverhältnisse vor allem die griechischen Ägäis-Inseln, das griechische Festland, Bulgarien sowie Albanien betroffen. Mit einem Computermodell simulierten Wissenschaftler von der Universität Athen vor kurzem, welche Folgen ein nuklearer Unfall in der südöstlichen Türkei auf die angrenzenden Gebiete haben könnte.

Anlaß der Simulation ist der geplante Bau eines AKW in dem türkischen Hafenstädtchen Akkuyu, gegenüber der zyperiotischen Küste, auf den die Regierung in Ankara auch nach dem verheerenden Erdbeben vor rund zwei Wochen nicht verzichten will: Der türkische Energieminister Cumhur Ersümer hatte zuvor gefordert, das AKW-Projekt dürfe nicht länger aufgeschoben werden.

Wie riskant das Projekt ist, erläuterte der Seismologe Vassilis Papazahos Ende August im griechischen Rundfunk. Nach seinen Messungen hat sich die Anatolische Platte während des Bebens um rund zwei Meter in einer Länge von 80 Kilometer in westlicher Richtung vorgeschoben. "Eine Erdplattenbewegung solchen Umfangs wird in der gesamten Region auch andere Gräben wieder aktivieren", sagte Papazahos. Er warnte ausdrücklich vor dem Bau des geplanten AKW in der südöstlichen Türkei, denn dieser Standort befinde sich gerade mal 20 Kilometer westlich des aktiven Ecemis-Grabens. In den Jahren 1995 und 1997 wurde die Gegend durch zwei Erdbeben mit den Stärken 5 bzw. 5,2 auf der Richter-Skala erschüttert. In der 170 Kilometer von Akkuyu entfernten Region um die Stadt Ceyhan starben vergangenes Jahr 145 Menschen bei einem Beben der Stärke 6,3.

Während das geplante AKW für Erdstöße mit einer Stärke bis zu 6,5 ausgerichtet werden soll, wurde dieser Wert vor rund zwei Wochen mit einem Beben der Stärke 7,4 auf der Richter-Skala in der Marmara-Region weit überschritten. Im eklatanten Widerspruch zu den seismologischen Untersuchungen behaupten die türkischen Behörden, Akkuyu liege "in der seismisch stabilsten Region der Türkei". Auch die Internationale Atomenergie-Agentur (IAEA) hat an dem ausgewählten Standort nichts auszusetzen. Die UN-Sonderorganisation zur Kontrolle Kerntechnischer Anlagen (IAEA) meint gar, daß es "weltweit keinen geeigneteren Standort für ein AKW" gebe.

Ausgeschrieben wurde der Kraftwerksbau schon dreimal, zuletzt Ende 1997. Doch die Realisierung scheiterte bisher an Finanzierungsproblemen und an dem Widerstand der Bevölkerung. Die neue Frist läuft nun am 15. Oktober 1999 aus. Bis zu diesem Zeitpunkt muß die türkische Regierung den Auftrag vergeben haben, da andernfalls die am Bau interessierten Firmen nicht mehr an ihre Angebote gebunden sind.

Bewerber sind der US-Konzern Westinghouseâ die kanadische Firma AECL und das deutsch-französische Konsortium Nuclear Power International unter der Führung der Siemens AG und mit der Beteiligung der Essener Hochtief AG. Dem deutsch-französischen Konsortium werden die besten Chancen für den Erhalt des Auftrages eingeräumt. Den Angaben türkischer Atomkraft-GegnerInnen zufolge plant die Siemens AG den Bau eines Atomreaktors nach dem Vorbild des AKW Neckarwestheim. Seit zwei Jahren werden dort türkische Ingenieure ausgebildet, die in Akkuyu eingesetzt werden sollen.

Im Juli 1998 wurden in Istanbul neun Greenpeace-AktivistInnen festgenommen, als diese mit einem Transparent mit der Aufschrift "Nukleare Hausierer nicht erwünscht" während einer Pressekonferenz der Siemens AG protestierten. Damals behauptete der Siemens-Sprecher Ulrich Fischer, Atomenergie sei unbedenklicher als die in der Türkei zur Stromgewinnung oft verwendeten Wasserkraftwerke. Die Siemens AG schlug für die Entsorgung des Atommülls das Taurusgebirge vor - eine als aktive Erdbebenzone bekannte Gegend.

Griechenland sieht sich jedoch noch aus anderen Gründen durch das Projekt bedroht. Der Türkei gehe es weniger um Stromgewinnung als um militärische Ziele, wird in zahlreichen Medienberichten behauptet. Und auch die Organisation Internationale Ärzte zur Verhinderung des Atomkrieges (IPPNW) vermutet, daß hinter dem Beharren der türkischen Regierung zum Bau des AKW sich ein Plan des türkischen Militärs verberge, ein eigenes Atomwaffenprogramm aufzubauen. Der Vorwurf ist nicht völlig abwegig. Schließlich hat die türkische Armee bereits mehrfach auf die Bedrohung durch das Atomwaffen-Programm von Pakistan, Indien und dem Iran hingewiesen.

Die Siemens AG könnte daher der geeignete Partner für die türkische Regierung sein, war der Konzern doch schon maßgeblich an dem Nuklear-Programm der verfeindeten Atommächte Indien und Pakistan beteiligt. In den siebziger Jahren schloß die Siemens AG mit der damaligen Militärjunta in Brasilien Verträge zur Entwicklung von Atommeilern. Die Pläne scheiterten an den fehlenden finanziellen Mitteln.

Auf leere Staatskassen will sich die türkische Anti-AKW-Bewegung jedoch nicht verlassen. Im Falle der Auftragsvergabe an die Siemens AG soll eine landesweite Siemens-Boykott-Kampagne gestartet werden. Die rund 3,5 Millionen EinwohnerInnen der Umgebung von Akkuyu haben über ihre Bürgermeister "erbitterten Widerstand" gegen jegliche Versuche, einen Reaktor zu bauen, angekündigt. Einen ersten Erfolg konnten die AKW-Gegner auf der Verwaltungsebene verzeichnen: Die in unmittelbarer Nähe von Akkuyu liegende Insel Bes Parmak Adasi wurde durch die EU zum "Schutzreservat der ersten Kategorie" erklärt. Ziel ist es nun, die Schutzzone auf die gesamte Region zu erweitern. Denn in dieser Region leben 321 seltene Vogelarten sowie andere vom Aussterben bedrohte Tiere.

Die Anti-AKW-Aktivisten in der Türkei können mit der Unterstützung der griechischen Anti-Atom-Bewegung rechnen. Die anarchistische Wochenzeitung Alfa berichtete im vergangenen Jahr mehrfach über die Baupläne in Akkuyu und rief dazu auf, einen geplanten Siemens-Boykott auch in Griechenland zu befolgen. In den griechischen Medien ist der AKW-Bau in Akkuyu nach dem schweren Erdbeben zu einem der wichtigsten Themen avanciert - wurden doch die eigenen AKW-Projekte wegen des zu hohen Risikos nie realisiert.

Ursprünglich sollten insgesamt acht AKW in Griechenland gebaut werden. Doch bereits nach Bekanntgabe des ersten Standortes zu Beginn der achtziger Jahre kam es zu militanten Massenprotesten. Das Erdbebenjahr 1981 und die Erkenntnis, daß Griechenland - wie die Türkei - ein erdbebengefährdetes Gebiet ist, sorgten kurz danach für das endgültige Aus für die griechischen Atompläne.