Sarajevo deutsch

Vollbeeindruckt besuchte Dietrich Kuhlbrodt das Sarajevo Film Festival in Bosnien-Herzegowina

Dem Deutschen ist alles deutsch. Auf den nachgedruckten Ansichtskarten von 1903, die ich in Sarajevo auf der Marsala Tita kaufte, stand es auf deutsch: "Franz Josefsstrasse" und "Appel-Quai". Das Stück für zwei Deutsche Mark. Wir sind 96 Jahre später. Man kann auch mit KM, der Konvertiblen Mark, bezahlen, aber das ist dasselbe. Am Ende des Jahrhunderts steht das Deutsche wieder am Anfang, nur sind wir statt in der k.u.k. Monarchie im Währungsgebiet der DM.

Zentrale des Imperiums ist nicht mehr Wien, sondern die Deutsche Bundesbank in Frankfurt am Main. Und wir haben doch gesiegt. In der Straßenbahn zahle ich 1,50 in Münzen und fahre auf dem Appel-Quai an der Brücke vorbei, an der Kronprinz Ferdinand sein Leben gelassen hat, aber auf Deutschsprachige wird nicht mehr geschossen. Ich erreiche mein Ziel, die Stage an der Vrbanja. Party Push (partypush@gamx.de) hatte die Stadt vollplakatiert, Berlin kam sechsmal vor, DJ: F.R.E.E., Visuals: Leigh Haas, Videos: Vijeko Kantar, Support: jackfruit; Sponsor der Balkansounds of Communication war auch Schüler Helfen Leben e.V., Eintritt: DM 6.

Als Metropolen unseres ausgeweiteten Herrschaftsgebietes haben wir neben Frankfurt am Main Berlin ausgemacht. Die Bonner Hardthöhe hatte konkurriert, wie man an den schmukken Uniformen unserer Sfor-Soldaten sieht. Zu viert stolzieren sie durch das glänzend wiederaufgebaute Basarviertel. "Viel schöner als früher", sagt Regieveteran Bato Cengic. Am niedrigen Werktisch in der Kazandziluk 20 hockt Ismet Alagic und hämmert traditionelle Muster in moderne Kupferformen. Dabei handelt es sich um aufpolierte Geschoßhülsen, jede ein kleines Meisterwerk, Preis zehn Mark, es wird gekauft, die Menge quirlt.

Was aber ist nun mit Hamburg? Immerhin komme ich aus dieser Stadt, und welche Herrschaft wird von mir erwartet? Ich bin Präsident der Internationalen Filmkritiker-Jury, wir sollen auf dem Sarajevo Film Festival den Hauptpreis vergeben. Sheila (London), Kati (Helsinki), Rada (Niederlande) und Laurent (Paris) sind einverstanden, daß wir am letzten Tag geheim darüber abstimmen, über welche Filme wir diskutieren wollen. Ich fand meinen Plan klasse: wegrationalisiert ist, was nicht effektiv werden kann. Ergebnis: Der Wettbewerbspreis geht an den Deutschen Jan Peters aus Hamburg für seinen Tagebuch-Film "Dezember, 1-31". Hamburg!

Die Freie und Hansestadt setzt jetzt einschließlich ihres Hafens Maßstäbe für die "New Currents", die auf Sarajevo zuhalten. "Neue Strömungen", das war die Sektion, auf die die Jury beschränkt war. Filme aus den Balkan-Regionen waren nicht Hauptsache: von vornherein unwürdig, sich um den Main Prize zu bewerben. Ich rief Juana Bienenfeld, Hamburgs Filmreferentin, an und bewarb mich um einen hanseatischen Verdienstorden. Doch die Stadt hat nichts zu vergeben. Immerhin darf ich jetzt im Namen der Stadt bis 2002 als Vertreter der Öffentlichen Hand in Wiesbaden bei der Filmselbstkontrolle FSK Filme ansehen und gucken, was für Sex & Gewalt jugendfrei ist.

Jan Peters wurde eingeflogen. Er ist vollsympathisch, lächelt angenehm. Zur Preisverleihung erschien auch zum erstenmal ein vollkorrekter Vertreter der deutschen Vertretung. Es ging um Deutsche. Er lächelte. Er sah sich "Dezember, 1-31" an. Er lächelte nicht mehr.

Wer meint, ich würde statt von Sarajevo ein bißchen sehr viel von mir sprechen, hat nicht verstanden, daß es mir als Vertreter einer der Herrschaftszentralen im Herrschaftsgebiet Bosnien und Herzegowina doch nur darum gehen kann, was ich (!) da für mich (!) herausholen kann und wenn's die Kompetenz für den Jugendfreigabebescheid ist.

Es liefen auf dem Sarajevo Film Festival Filme aus Kirgistan, Tadschikistan, Tschechien, Mazedonien und Montenegro - Filme, die ich sehr geliebt habe, für die es jedoch an der Jury-Kompetenz mangelte. Die Festivalleitung hatte diese Filme aus welchen Gründen auch immer als "regionaler Film" abqualifiziert und in den zweiten Rang abgeschoben. Aber ein Schlupfloch blieb. Als Vorfilm war ins Wettbewerbsprogramm die traumhaft schöne Hommage an "Adrian" geraten: ein herzerfrischender Film der Slowenin Maja Weiss. Vokabeln wie Avantgarde, experimentell, Beziehungsdrama oder sonstwas mit

-genre am Ende versagten vor dem vollendeten Film-Unikat. Wir begriffen, wie ergriffen wir waren, eventuell auch von unserem eigenen Herrschergroßmut, eine Auszeichnung, eine weitere, eine kleine, an einen Balkanfilm zu vergeben. Slowenien!

Oder hatte der Festival-Präsident insgeheim große Dinge vor, wenn er die Hand auf dem Regionalverkehr behielt? Uns ließ er im Glauben, für den vollklimatisierten ICE zuständig zu sein, der allerdings Sarajevo gar nicht erreichte, obwohl im Hauptbahnhof seit einem Monat wieder Züge verkehren. Es wird wieder gefahren, wenn auch nicht weit. Die Loks, Diesel und Strom, sind länger als der einzige Wagen, der angehängt ist. Das aber ist gleich eine voiture couchette: im Liegewagen bis zur nächsten Stadt. Die anderen Wagen stehen mit ihren Einschußlöchern und Rostdächern wie im letzten Jahr auf dem Nachbargleis des gigantischen Bahnhofs, der Anfang der fünfziger Jahre mit soviel Hoffnungen auf New Currents erbaut worden war.

Daß der Verkehr regional ist, ist eventuell nur aus der Perspektive des Imperiums etwas Minderes. Das Regionale, das sich den angesagten Neuen Strömungen entzieht, entzieht sich gleichzeitig den Kontrollen internationaler Märkte, Jurys und Besserwisser. Dachte ich mir, während der eine die Räder abklopfte, der Lokführer im letzten Moment einen Zentnersack Mehl in den Fahrstand hievte, die Stimme im Lautsprecher sich überschlug, der eine Beamte die Kelle hob und der andere die Tür schloß und die Zuschauer dem Zug nachsahen.

Entzog sich das dem Zugriff? Ich hatte Präsident Mirsad Purivatra so verstanden, daß er in Sarajevo ein Zentrum installieren möchte, das jedenfalls auf dem Filmsektor so etwas wie eine Ost-/südosteuropäische Identität zum Bewußtsein bringen könne. Ein Zentrum der Regionen! Hatte sich nicht unser Gesamtkontinent grade zu einem zentrumlosen Europa der Regionen erklärt? Eventuell allerdings, um damit zu sagen, daß sich Brüssel um Kultur nicht schere.

Ostsüdost findet zu sich in Sarajevo! Das wäre eine Nachricht! Im Vergleich zum letzten Jahr finden sich für dieses große kulturelle Ziel eher weniger als mehr Filme. Belgrad war nicht eingeladen, obwohl der jugoslawische Film (englischer Titel: "The Dagger") festivalwürdig gewesen wäre. Peinlicher noch, daß das potentielle Zentrum Bosnien und Herzegowina zum erstenmal keine eigene Filme zu zeigen vermochte. Es gab keine. Die Altproduzenten klagten, daß die staatlichen Überweisungen ausblieben. Es werde abgewickelt. Es interessiere sich niemand. Niemand telefoniere oder faxe. Man brauche eventuell E-Mail-Hardware. Gezeigt wurden daher altbosnisch-herzegowinische Filme aus den sechziger und siebziger Jahren; das Programm wirkte wie eine renovierte Fassade vor den jetzt ruinierten oder entkernten Gebäuden der regionalen Filmgeschichte.

Der vollsubversive, erfrischende und sehr wohl seine Zeit dokumentierende Kurzfilm "Fasade" (1972) war dabei. Zum 20. Jahrestag der großen sozialistischen Feier stellten Arbeitskolonnen entlang der Fahrtroute der Staatsgäste endlose Reihen von Stellwänden vor die verfallenden Elendshäuser und -baracken der Stadt. Optimistische Plakate auf den Schildern, die soeben ein Ghetto eingezäunt hatten!

In der Diskussion, die sich jetzt der Wiederaufführung von "Fasade" anschloß, wußte es ein Gast aus den neuen Bundesländern besser. Die DDR habe in Vergleichssituationen vorbildlicher, produktiver gehandelt. Daheim in der Deutschen Demokratischen Republik habe man die realen Fassaden bis zur oberen Sichthöhe, die man von der Staatskarosse aus gehabt habe, angestrichen, d.h. bis zum zweiten Stockwerk.

Der Diskussionsbeitrag war klasse. Ein osteuropäischer Interregio zwischen den neuen Bundesländern und Bosnien und Herzegowina kam in Fahrt. Aber er blieb liegen. Vehement, unangemeldet und seines Sieges sicher, besetzte der montenegrinische Minister für kulturelle Angelegenheiten den regionalen Filmplatz, der in Sarajevo leergeblieben war. Unangekündigt erschien Budimir Dubak zusammen mit dem Filmstab des soeben fertiggestellten montenegrinischen Films "Im Namen des Vaters und des Sohnes" auf dem Festival und hielt vor der Presse eine flammende Ansprache, von der die verängstigte Presseabteilung des Fests später behauptete, daß es sie entweder a) nicht gegeben habe oder daß sie b) nicht in ihre Kompetenz falle, so daß man auch den Namen des Ministers nicht zur Hand habe, vielleicht aber sei er unter dem Tresen zu finden. Dubak also: "In Sarajevo öffnet sich Montenegro der Welt, und die Welt öffnet sich Montenegro". Klasse!

Dem Wunsch, in Sarajevo ein ostsüdosteuropaweites (film-)kulturelles Zentrum zu errichten, steht die Politik der neuen Balkanstaaten entgegen, ihre Souveränität zu verteidigen und nicht einfach den Kultusminister eines anderes Landes, das obendrein gar kein richtiger Staat ist, ins eigene zu lassen, egal ob der Film hervorragend geeignet sei, eine Ostsüdost-, Balkan- oder wie-auch-immer-Identität zu finden. Doch der Film lief vor einem vollen Haus, und der Ostsüdost-Festivalpräsident war dann auch irgendwie stolz darauf, daß die Projektion zustandegekommen war, einfach so. Zu sehen waren in dieser ersten internationalen Uraufführung von "Im Namen des Vaters und des Sohnes" deftige Auftritte von Schauspielern im Stil des kunterbunten Komödienstadels, die direkt, unverblümt und kritisch die Vergangenheit bis 1999 aufarbeiteten. Kusturica war blaublütig daneben. Eine Prime-Time-Staatskomödie/-tragödie.

Ein krachledernes Politikum, so was gibt's nicht im deutschen Sende-, Währungs- und Herrschaftsgebiet. Beeindruckt fuhren wir internationale Festivalbesucher mit dem Bus nach Mostar. Ich saß zwischen Fahrer und Dolmetscherin und bekam es übersetzt, warum der Bus von der Polizei gestoppt wurde - mitten in den traumhaft schönen Bergen Herzegowinas, noch vor den sanften Hängen, auf denen der beliebte, nicht allzu trockene Rotwein "Blatina Mostar" angebaut wird.

"Sind die Fahrgäste alle bosnisch-herzegowinischer Staatsangehörigkeit? Sind Ausländer dabei?" Mir verging der Tourismus, den Paß hatte ich im Hotel abgegeben. "Now we have a huge problem", übersetzte die Dolmetscherin. Inzwischen hatten weitere Beamte in ihren schnittigen Uniformen den Schlepperbus umstellt, auch sahen die sanften bis jähen Berghöhen inzwischen mehr nach Zittau aus. Wessen wurden wir verdächtigt? Kosovo-Flüchtlinge werden in der Herzegowina nicht geduldet, wurden wir belehrt. Verstohlen tippten die ersten auf ihren Handys herum, um sich des Schutzes ihrer Botschaft zu vergewissern. Wir sind keine Kosovaren! Aber die Polizei hatte gelernt. Wir waren nicht nur im Währungs-, sondern auch im Bundesgrenzschutzland Deutschland.

Mostar war eine Enttäuschung. Von der Brücke war nichts zu sehen, weil sie zerstört war. Von den Zerstörungen war nichts zu sehen, weil überall vor den Fassaden Sonnenschirme, Tische, und Stühle aufgestellt waren. Der Blick brach sich an Souvenirauslagen und Café-Inventar; die Touristen drängelten durch überfüllte Gassen; Japaner und Rucksacktouristen fotografierten einander, lächelten; aus den Lautsprechern kamen die Charts, die Sonne schien, 30 Grad, es war eine Bombenstimmung. Stadtführer machten sich anheischig, einen Blick hinter die Kulissen zu gestatten. Tolles Backstage Feeling. Kroaten hatten die historische Brücke zerdätscht, um dadurch in Besitz der Stadt-mit-der-historischen-Brücke zu kommen. An ihrer Stelle ist eine Art Sprungschanze gebaut, von der wagemutige Jungs in den sehr viel tiefer liegenden Fluß springen. Aus Mostar mußten wir raus. Wir fuhren anderntags nach Pale.

Zum früheren Sitz der Subrepublik Srpska kommt man von Sarajevo mit der Stadtbuslinie 40. Dauer ca. 20 Minuten. Daß man in Pale ist, merkt man daran, daß man als Wechselgeld nicht DM oder KM, sondern jugoslawische Dinar herausbekommt. In der Stadt, die ein Plattenbauvorort ist, taucht der Name Pale nicht auf, wohl aber der von Srpskaja Sarajevo. Hier warten Sarajevo-Serben auf ihre Heimkehr. Von den früher 30 Prozent ist dies trotz Dayton erst drei Prozent geglückt.

Was bietet Serbisch-Sarajevo? Es ist Markt. An den Ständen viel Kinderspielzeug. Aus Korea. Zu erstaunlich niedrigen DM-Preisen werden Nato-Kampfbomber und allerlei Kriegsgerät angeboten, das mit dem Sternenbanner verziert ist. Verwirrt zog sich die Jury nach Muslimisch-Sarajevo zurück. Wie war das denn noch mit der regionalen Identität? Bosniens Metropole hat sich vor wenigen Jahren mitten im Stadtzentrum ein den neuesten Strömungen entsprechendes 1 200-Plätze-Freilichtkino gebaut mit einem Super Sound, mit Well Feeling Seats und Cola-Ständen ringsherum. Die Schreie im neuen "Tarzan"-Film: war das nicht schon etwas wie Dolby Digital Surround? Etwas scheppernd, aber unüberhörbar drang zur Gebetsstunde mit minder perfektem Sound der Ruf des Muezzins in die Jungle-Welt.

Die 1 200 Kinder und Jugendlichen hatten längst ihre Identität gefunden. Was wollte das Festival denn noch mit Ostsüdosteuropa, was wir mit dem Europa der Regionen, wo doch alle auf öffentlichem Platz und open air sich längst selbst gewiß sind: im Mainstream. Ganz wie in Frankfurt am Main, Berlin und Hamburg.