Die Welt als Wille als Vorstellung

Peter Sloterdijk belebt den "Frankenstein-Komplex": Ein Theaterfestival in Weimar

Ein Hoch auf die kommunikativen Kompetenzen des Dr. Viktor Frankenstein. Wo immer sich der knapp 200jährige Bio-Bastler mit dem urdeutschen Namen im Weimarer Kulturjahr 1999 auch zeigt: Überall begleitet ihn eine Avantgarde von reitenden Boten und kündet von neuen Erfolgen des Ingolstädter Vitalisten.

Zuletzt mit dem Mohr vom Spiegel, der dem Professor Sloterdijk die Philosophenmaske vom Kopf riß: Zum Vorschein kam einmal mehr die Fratze des Menschenmachers. Peter Sloterdijk hatte - zur Erinnerung - in seiner verschwiemelten Art Germanistik mit Anthropologie zusammengerührt, hatte etwas Adolf F. Kittler mit einem Schuß Arnold Gehlen vermengt und dabei ein Textmonster erzeugt, das im Humanisten Reinhard Mohr den stets lauernden heroischen Killertrieb weckte.

Frankenstein, der Schöpfer namenloser Chimären, trieb damit einmal mehr die Auflagen in monströse Höhen und ließ das Lesevolk fröhlich erschauern. Dafür dankt ihm die Kulturwelt, und die Stadt Weimar dankte es ihm mit dem Theaterfestival "Der Frankenstein-Komplex".

Damit ist nur neudeutsch umschrieben, was altbacken einst Mythos hieß: Eine gut erzählte kommunitaristische Ursprungsgeschichte, der sich Welt und Wille gleichermaßen gefügig verschreiben. Aber Komplex hin, Mythos her: Frankenstein, so die Botschaft vom Weimarer Monsterfest, ist als kollektives Phantasma nicht nur hochaktuell, sondern auch allgegenwärtig - die Monster nämlich "sind wir". So sprach der sonst eigentlich sehr nette Wolfgang Bergmann von 3sat und organisierte für die Kulturstadt ein Festival, in dem es

von Monstern aller Art nur so wimmelte.

Und so unrecht hat der Bergmann da nicht. Seit Mary Shelleys Roman "Frankenstein oder Der moderne Prometheus" von 1816 gilt unwiderruflich das Phantasma von der kulturellen Reproduktivkraft des Menschen. Der Halbgott Prometheus, in der Goethezeit noch einmal zu späten Ehren gekommen, dankte endgültig ab.

Mit Mary Shelleys "Frankenstein" empfangen wir den Kollektivnamen "Mensch" nicht mehr als ein himmlisches Geschenk; seither produzieren wir selbst. Doch daß es sich bei dem namenlosen Monster - das bald schon in schöner Verwechslung als "Frankenstein" zu weltweiter Berühmtheit gelangte - nicht um ein technisches, sondern um ein literarisches Produkt handelt, daran ließ Mary Shelley gleichwohl keinen Zweifel.

Das Monster Frankenstein(s) war niemands anderes als ihr eigener "geistiger Sprößling", und nur ein Wunsch beseelte die anonyme Autorin noch 13 Jahre nach seiner Geburt: Ihr Geschöpf möge "in die Welt gehen und gedeihen". Mary Shelleys Wille sollte geschehen; aus ihrem anti-prometheischen Schöpfungsmythos wurde bald ein gruseliger anthropometrischer. Denn seit Shelleys verspätetem Schauerroman wissen wir, wie sich ein jeder mittels literarischer Phantasie das Phantasma vom ganzen Körper - das Individuum - zusammenstückelt.

Es genügen dazu ein paar tote Teile - Organe genannt - und ein kräftiger Stromschlag. Das Leben ist seither zum transzendenten Appendix des Toten geworden. Die literarische Geburt ihres Monsters aber, die Mary Shelley in einer späten Vorrede von 1831 erinnert, sollte man sich buchstäblich vor Augen führen. Nach einem abendlichen Gespräch unter romantischen Freunden nämlich erscheint hinter den geschlossenen Lidern der Erzählerin die Figur des heillosen Doktors und seines Geschöpfs: "Er öffnet die Augen, und siehe, das scheußliche Wesen steht an seinem Bett, öffnet die Vorhänge und sieht ihn mit gelben, wäßrigen, aber forschenden Augen an. Entsetzt öffnete ich die Augen. Die Vorstellung nahm mich so gefangen, daß mich ein Angstschauer überlief." Am Morgen darauf setzte sich Mary Shelley hin und trug das Produkt ihrer Augenspiegeleien in die Welt.

In Weimar nun tummelten sich die Monster gleich dutzendweise. Klone und Cyborgs gaben sich Tür und Transplantat in die nicht immer ganz eigenen Hände, multipel waren die Seelen, schön scheußlich die Körper, und manch einer wußte schon bald nicht mehr, wo ihm der Kopf stand. Schuld daran war vor allem der Dramatiker Wolfgang Deichsel, dessen Frankenstein-Dramen in einer Werkschau aus den frühen sechziger Jahren im Mittelpunkt des Theater-Komplexes standen: "Frankenstein - Aus dem Leben der Angestellten", "Die Zelle des Schrekkens", "Frankensteins Braut".

Frankenstein nun als Informationstechnologe der ersten Stunde - aber noch immer im weißen Kittel und mit Sauerbruchs Maske : Das klapperte in schöner Harmlosigkeit über Weimars Bühnen und erzählte das alte Schauermärchen vom Monster, das am Ende eben doch immer die anderen sind. Noch ganz im Geiste der alten BRD regiert in Deichsels Theater die Pathosformel vom "Monster, das wir sind" unter dem Namen Entfremdung.

"Wir": Das ist der universelle Verblendungszusammenhang. Damals wie heute - im eigens für Weimar geschriebenen Einakter "Rott" - läßt Deichsel die Türen zum wahren Leben hinter dem falschen scheu klappern und ... und schlägt sie dann allemal zu: "Ich finde nicht raus. Kann mir mal einer den Ausgang zeigen", murmelt das Monster - Rott - unterwürfig, dann fällt der Vorhang.

Natürlich ist das eine Hommage an Samuel Beckett, doch Deichsel macht es uns leichter als sein irischer Kollege. Denn noch gibt es die Sprache, die mit ihren Wendungen die Verblender ins Gegenlicht setzt. Da werden die "Angestellten" zu "Abgestellten"; die Hirnrissigen erkennen, wie man "durch Risse" schaut, und auf die Frage "Ist er denn wieder bei sich?" weiß Cyborg Nickel, zusammengesetzt aus den Körperteilen frischgeklonten Menschenmaterials, nur eine verdutzte Gegenfrage: "Wo?"

In aufwendigen Materialschlachten und wilder Szenen-Kombinatorik versuchten in Weimar sowohl Johannes Brandrup, der junge Berliner Schauspieler und Regisseur der Essener Theatergruppe "Die Zelle", als auch das Volkstheater aus Prießenthal, den Stücken neues Leben einzuhauchen. Doch je virtueller und interaktiver sie sich dabei gebärdeten, desto mehr verkümmerten die Inszenierungen und verströmten den etwas peinlichen Geruch eines in die Jahre gekommenen Mitmachtheaters.

Daß der Frankenstein-Komplex auf der Bühne sehr wohl Energien freizusetzen vermag, zeigte hingegen die Produktion des Bukarester Ensembles um Mihai Maniutiu. Sein "Genosse Frankenstein. Geliebter Führer" war totalitäres Theater und wollte nichts anderes sein: Ein schockierender Bildersturm von hinreißender Gewalt, der in seiner strengen Choreographie nicht nur den betörend schönen Bühnenraum auf dem Beton des einstigen Weimarer Mähdrescherwerks "Halle Roter Oktober" jederzeit unter Spannung hielt, sondern der seinem angestrengten Sujet auch jederzeit Paroli zu bieten vermochte.

Maniutius Theater war die pathetische und totale, die anachronistische und zeitlose Inszenierung der Ceausescu-Diktatur - das idiosynkratische Drama vom neuen kommunistischen Menschen. Das aber wollte dann in seiner choreographischen Geschlossenheit schon fast die Rückkehr des Theaters zur antiken Tragödie. So unschuldig zumindest, wie das Deichsel-Theater es glauben macht, scheint die Verwandlungsmaschine Theater dann doch nicht. Der Souverän Kunst trägt dazu bei, wenn es um die Regeln der Menschenerzeugung geht.