Große Gefühle ohne große Begriffe

Leben und Tod, Liebe und Hass, Gott und Teufel: Xavier Naidoo ist meist auf einer Mission.

Früher, als ich noch ein kleiner Junge war, wurde für uns Kinder, die wir die Grundschule eines gottverlassenen Dorfes in Norddeutschland besuchten, alljährlich ein Laternenumzug veranstaltet - kein großes Ereignis, aber immerhin ein Ereignis in einer Gegend, wo Autounfälle und Hausbrände die einzige Abwechslung waren und der Wechsel der Jahreszeiten den Alltag bestimmte. Wir freuten uns darauf. Und als es so weit war, zogen wir gut gelaunt mit unseren bunten Laternen durch die nächtlichen Dorfstraßen eine Route entlang, die stets auf dem kleinen Schulhof endete, wo unsere Lehrerin uns wie jedes Jahr hieß, "Kein schöner Land" zu singen.

Also sangen wir "Kein schöner Land", den Text lasen wir von einem Blatt Papier ab, und obwohl wir ihn nicht verstanden, gefiel er uns gut. Wir mochten die Melodie. Doch meistens fing es an zu regnen, und sobald wir mit dem Lied fertig waren, liefen wir schnell nach Hause und legten uns müde ins Bett. So war es in den sehr späten Siebzigern in Westdeutschland.

Viele Jahre später sah ich im Fernsehen die Sendung "Zimmer frei", eine beliebte Spielshow mit Prominenten. Der Stargast jenes Abends war der Sänger Xavier Naidoo, und Gastgeber Götz Alsmann saß wie so oft am Klavier. Er spielte deutsche Volkslieder, und Xavier Naidoo sang dazu, und plötzlich sang er auch dieses eine Lied, es war das Lieblingslied meiner alten Lehrerin.

Xavier Naidoo ist auf einer Mission. Er muss diese Welt verbessern, er muss sie retten, würde er wahrscheinlich sagen, denn zu retten ist sein Auftrag - nicht umsonst haben ihn seine Eltern so getauft, wie sie ihn getauft haben (sprich: Saviour). Alles ist von Bedeutung, die Worte, das Leben, der Schmerz. Natürlich leidet er furchtbar unter den Verhältnissen ("Das System, in dem wir hier leben, ist ungerecht, tückisch und kalt"), weshalb er sich früher bunte Brillen auf sein Gesicht setzte, was einerseits hübsch aussah und andererseits sein Leben fröhlicher machte, jedoch die Verhältnisse verschleierte. Heute trägt er die Brillen selten, dafür einen Afro. Wer möchte, kann darin ein Statement lesen, in dem Haltung und Style sich plausibel ineinander verschränken.

Xavier glaubt bekanntlich sehr ("Wie Zunder brenn' ich in Dir, wenn ich weiter an Dich glaub'"), es ist sogar anzunehmen, dass er unablässig betet, dass er ungefähr sämtliche Handlungen seines Tagewerks unter dem Eindruck tiefer Religiosität verrichtet ("Die Hölle ist nicht mein Garten"). Unter Musikern seines Genres - sagen wir mal: Soul / Black Music - ist das zwar nicht unüblich, Marvin Gaye, Al Green, Prince, Guru oder Lauryn Hill beteten und beten ja auch den lieben langen Text lang, aber, hey, der macht das - Achtung: Vorwurf - auf Deutsch. Gewiss gibt es dafür keinen guten Grund, aber es gibt auch keinen guten Grund dagegen. Und während die Schuldfrage noch ungeklärt und ziellos durch den Raum geistert, ist zumindest eines sicher: Man versteht. ("Seid Ihr bereit für die Stimme von Mannheims Sohn?") Regionale Verbundenheit (Mannheim, Frankfurt), der Kontakt zu den Homies (Rödelheim, 3p) sowie ein üppiger Strauß mythischer Begriffspärchen wie Hass und Liebe, Tod und Überleben, Herz und Schmerz, Freiheit und Gefangenschaft, Teufel und der Liebe Gott sind für Xavier Naidoo die Inspiration und die Grundlage seiner Textarbeit. ("Sieh es als Prüfung und ernte Deine Saat").

Und da liegt das Problem. Künstler wie Xavier Naidoo gelten als verquast, weil ihre geliehenen Gesten entweder als uncool gelten oder verwirrten jungen Männern nur den Weg zu anderen jungen Männern zeigen, die mindestens ebenso verwirrt sind. Was zu einer Enttäuschung führt, die für Erkenntnis gehalten wird, aber tatsächlich nur ein Missverständnis ist. Ein Missverständnis von Pop.

Naidoo hat wahrscheinlich keine Idee zu all den starken Worten ("Wir sind 20 000 Meilen über dem Meer"), nur ein Gespür für Stärke und Wirksamkeit ("Söhne, so weit das Auge sieht"), was wiederum sein Publikum ("Lass uns groß werden wie ein Heer") nicht weiß oder aber zu Recht an ihm schätzt ("Seht gut zu, wie uns geschieht"). Denn wenn einer verwirrt ist, und das ist ja zunächst mal keine Schande, adelt es ihn mehr, wenn er sich an großen Worten, die für ihn ein sinnvolles und kraftstrotzendes Leben versprechen, orientiert, als wenn er sich an neunmalklugen Lebensweisheiten, die mit cleverer Geste daherkommen, orientieren würde.

Doch Xavier ist ein leichtes Opfer. Man braucht nicht einmal von einem kritischen Geist beseelt zu sein und nur relativ unkonzentriert in seinem ideologischen Müllhaufen herumkramen, bis man ihm messerscharf sein Irre-Geleitet-Sein nachweisen kann. Doch seien wir gerecht und konzentrieren wir uns auf das Produkt.

Xavier Naidoo hat eine schöne Stimme und seine Lieder sind von schlichter Eleganz. Das Produkt ist also gut. Über eine Million Menschen fanden daran Gefallen, der junge Mann aus Mannheim hat mit "Nicht von dieser Welt" aus dem Stand Doppel-Platin verkauft, er ist also kommerziell erfolgreich, was unter Bedenkenträgern selbstredend gegen ihn verwendet wird.

Dabei hat er seinem Publikum manch' schöne Zeilen geschenkt. ("Glaubst Du, dass die Sterne, die am Himmel stehen, leuchten, weil irgendwer sie anknipst, glaubst Du das?") Zeilen, die sensiblere Zeitgenossen schon in den Zustand meditativer Nachdenklichkeit geschleudert haben sollen ("Glaubst Du, dass Dein Leben bereits geschrieben steht und dass irgendwo ein Weiser für Dein Tun die Konsequenzen trägt?"), während andere darin ("Wenn Du das glaubst, dann wirst Du nie sehen und verstehen, was es heißt, wenn ich sag, ich will frei sein") die Essenz der gesammelten Lehren von Lenin und Curtis Mayfield schauten. Ein Grund mehr und Anlass genug, alle Zweifel beiseite zu schieben. Denn Xavier gibt es jetzt auch "Live" - mit Gospel ("Sometimes I feel like a motherless child"), noch mehr Gefühl ("Amen") und viel Kontakt zum Publikum. Xavier kennt alle seine Musiker beim Vornamen: "Das ist der Andy". Er zeigt sich als sympathischer Entertainer, den es zu schätzen lohnt.

Oder anders: ("Sag es laut, wenn Du mich liebst"). Ach Xavier, wenn Du wüsstest!

Xavier Naidoo: "Live". 3p / Epic