Eine Art Cocktail I

Why not?

Der genaue Verantwortungs-Dienstweg in puncto Maueröffnung am 9. November 1989 ist, trotz zahlreicher Spezialanstrengungen, von der historischen Forschung bislang nicht befriedigend aufgeklärt worden und wird vielleicht noch Generationen von Rätselfreunden in den Bann ziehen, wenngleich für die, die dabei gewesen sind, fest steht, dass eine Art Cocktail aus allgemeinen Wurschtigkeitsmaximen, Verschwörung, Dienstwaffen-Erosion und zwotem Hauptsatz der Thermodynamik hier ausschlaggebend gewesen sein muss. Egal. Was geschehen ist, ist geschehen. Das Wasser, das Schabowski in den Wein goss, ist nicht mehr herauszuschütten.

Ich saß am Abend des ominösen Tages in der "Lotus Bar" in der Schönhauser Allee, das war ein schmieriges Lokal mit Türsteher, gedämpftem Rotlicht und Knutsch-Nischen. Normales Deppengerede schwallte durchs Etablissement, und ich hatte mir gerade eine Nicaragua-Solidaritäts-Zigarre angebrannt und einen Cuba Libre bestellt, als die Nachricht von der erfolgten oder unmittelbar bevorstehenden Maueröffnung am Übergang Bornholmer Straße stille-Post-mäßig hereinschneite und sich laut verbreitete. Der Verkehr auf der Allee hatte auch statt wie gewöhnlich ab- merklich zugenommen, die Leute standen vorwärts in den Straßen und in einer Richtung. An den Nachbartischen brach Enthusiasmus aus, ein Grüppchen nach dem anderen zahlte und verließ den Laden, bis ich mit meiner angerauchten Zigarre und dem frisch eingeschenkten Cuba Libre allein da saß, eindrucksvoll umstanden von zwei "Serviererinnen" und ihrem mich konsterniert musternden Chef hinter der Bar.

Was tun?

Die drei waren ja einerseits keine studentischen Hilfskräfte, sondern auf Lebenszeit fest angestellte Gastwirtschaftsbeamte, Kollektiv der sozialistischen Arbeit oder wie, und sie konnten mich so früh am Abend schlecht rausschmeißen und einfach dicht machen, Schild vor die Tür: "Wg. Mauerinventur geschlossen". Andrerseits wollten auch sie ja unbedingt hin und, wenn's tatsächlich gehen sollte, schnell mal rübermachen, war doch klar, die Gelegenheit, logisch.

Ich natürlich auch - why not? -, aber doch nicht so würdelos unter Preisgabe von a) Zigarre und b) Getränk. Die erbärmlichen Aufbruchsaktivitäten im Lokal und das Vorüberfluten der Menschen vor dem Fenster hatten einen idiotischen Stolz und die Einsicht in mir geweckt, meine verbleibende Zeit hier unter einen kategorischen So-nicht-Imperativ zu stellen. Tatenarm und gedankenvoll griff ich mir an den Kopf und widmete mein Rauchen der Frage, ob man durch eine Tür, nur weil sie sich geöffnet hatte, gehen müsste.

Das Unbehagen, das die drei, einzig durch mich noch festgehaltenen Werktätigen abstrahlten, hätte man mit dem Geigerzähler messen können. Ein "Abschnittsbevollmächtigter" stromerte herein. Ob wir schon wüssten, dass ... Aha, soso, nun denn. Da nehme ich doch noch einen Cuba Libre, sagte ich mit Polizeiunterstützung im Rücken. In den Augen des Barkeepers wurde mein Todesurteil gesprochen ...

Fortsetzung folgt zum 20. Jahrestag der Maueröffnung.