In der Altstadt
Die in den Neunzigern explosionsartig entstandene »bürokratische« Marktwirtschaft vermittelt dem Besucher Pekings das Bild einer pro-westlichen Großstadt, in der sich gegensätzliche soziale und kulturelle Strömungen mischen. Zahllose Märkte und Geschäfte eröffneten und veränderten das Stadtbild, aber in den älteren Stadtgebieten findet man Orte und Gassen, in denen sie oft fehlen und die Zeit stehen geblieben scheint. Dort finden sich Spuren einer Vergangenheit, die im neuen geschäftlichen Peking durch Wolkenkratzer und Einkaufsmeilen ersetzt wurde. Gegenüber der wachsenden Zahl von Mittelständlern heben sich besonders die älteren Menschen in den Gassen der in vorrevolutionärer Zeit angelegten Stadtbezirke ab, jene, die während der Kulturrevolution in einem Gemisch aus Lethargie, Misstrauen und Angst lebten. Für sie sind die Erfahrungen jener Zeit eine Allianz mit der Härte neuchinesischer Realität eingegangen, denn sie vor allem zählen nun zu den Verlierern in einer Massengesellschaft, in der das pure wirtschaftliche Überleben dringender auf Eigeninitiative, Mut und Ideen angewiesen ist als zur Zeit von Maos Republikgründung.
Geschäfte
Die meisten älteren Chinesen sind gezwungen, sich ihr Brot durch den Verkauf aller möglichen Dinge zu verdienen. Die zahllosen Straßenhändler waren vor etwas mehr als zehn Jahren noch undenkbar - jetzt scheint es, als seien sie schon immer da gewesen. Neben der Gastronomiebranche boomten besonders kleine Straßenküchen, die etwas billiger und einfacher als Restaurants sind. Zahlenmäßig konkurrieren sie nur noch mit den unzähligen Friseurläden. Und wer kein fließendes Wasser im Laden oder in der Wohnung hat, wäscht eben auf der Straße.
Mao-Kitsch
Alle Zeugnisse aus der Zeit der Kulturrevolution haben mittlerweile den Status von Souvenirs. Auf Märkten kann man alles Mögliche an die Mao-Zeit Erinnernde erwerben, in der Regel als Nachahmungen. Inzwischen existiert ein eigener Industriezweig für die Mao-Kitsch-Produktion. An die graue Welt der Mao-Jahre erinnern die Erzeugnisse kaum noch, und in Vermischung mit Antiquitäten aller kulturellen Epochen Chinas wirken die Mao-Büsten neben den Buddha-Figuren wie Zeugen längst vergangener Dynastien. Diese Kitsch-Kultur entstand in den achtziger Jahren, einige Zeit nach der Armutsepoche unter Mao, indem sich Schlager, Kung Fu und sonstiger Kitsch mit den Reliquien des Maoismus und den Resten der alten Kultur mischten. Mit viel Tamtam artikuliert sich auch die jetzige politische Klasse. Jede staatliche Proklamation, ob plakativ, im Fernsehen oder an Hauswänden, wird in Kitsch verpackt. Das stört jedoch den Pekinger Händler wenig, der damit seinen Lebensunterhalt verdient.
Verlierer
In den Gassen der alten Pekinger Bezirke begegnet der Besucher den armen und alten Leuten, den Obdachlosen, Bettlern, Bauern. Die alten Leute, in ihre typischen blaugrauen Mao-Uniformen gekleidet, erinnern an alte Zeiten. Hier streunen auch die Außenseiter und Verlierer der Neunziger, die kaum aus eigener Kraft existieren können, die betteln müssen oder Speisereste suchen. Die etwas wohlhabenderen Pekinger reagieren auf deren Anwesenheit mit Verachtung. Sie passen nicht in das Bild der Stadt, wie es die Investoren und Stadtväter sehen wollen. Zum Nationalfeiertag ließ die Regierung viele Bettler, Obdachlose oder andere Auffällige aus der Hauptstadt aufs Land schikken - es wur-de von etwa 30 000 bis 40 000 Menschen gesprochen. Nun sickern sie wieder still und beständig in die große lärmende Stadt hinein.