Die Moral des Skandals

Skandalverarbeitungskompetenz: Das Pfeifkonzert ist Treueschwur.

Zwei Ideale, wie der moderne Mensch sein soll, konkurrieren miteinander: einerseits der stets fröhliche, positiv denkende, Fun verkörpernde, seinen Weg machende Typ. Andererseits der oft verbitterte, schimpfende, nörgelnde, enttäuschte Charakter. Nicht unterscheiden kann man sie im Fleiß, in der Fähigkeit zur Entsagung, in der Staatstreue - also Nützlichkeit für den Standort. Zwischen den Idealen herrscht Fluktuation. Gegenüber dem ungebrochenen Positivisten beharrt der kritische Konformist darauf, dass seine Verdrossenheit etwas Wertvolles sei, was man z.B. daran erkennen könne, dass allerhöchste Obrigkeit sich sorgte, bliebe er der Wahlurne fern.

Das Lager der kritischen Konformisten hat in der Selbstwahrnehmung einen linken und einen rechten Flügel. Sie waren nie ganz leicht zu unterscheiden - heute so schwer wie nie zuvor. Dem Bund der Steuerzahler applaudieren alle, wo einst nur reaktionäre Mittelständler staatliche Mittelverschwendung an Infrastruktur und Sozialhilfeempfänger, zu teure Beamte und Politiker mit regulierenden Gesetzen anprangerten, um ihrer Forderung nach Steuersenkung Nachdruck und ihren Betrügereien die seelische Entlastung eines gerechten Widerstands zu verleihen.

Das fortschrittlich sich dünkende Milieu hat bei Rowohlt auf gut 700 Seiten 61 »Skandale der Republik« zusammengetragen. Sich diese Fleißarbeit antuend, watet man vom überteuerten Panzer HS 30 zu den abgestürzten Starfightern, ekelt sich, wie unfair die Bayernpartei fertig gemacht wurde, erblickt skrupellose Geschäftemacher, die Contergan rezeptfrei verkaufen, die Herstatt-Bank in den Ruin treiben, das Seveso-Gift produzieren und den Ausgang von Fußballspielen manipulieren. Spiegel-Redakteure, die sich um die Schlagkraft der Bundeswehr sorgten, werden verhaftet, aber Berliner Baulöwen von Bürgermeistern begünstigt. Kanzler Schmidt bekennt, dass im Herbst 1977 nicht alles verfassungsrechtlich sauber war, während Albert Vietor sich an der Neuen Heimat bereichert und man Alfons Lappas nicht glauben darf, er habe das alles nur zur Sicherung der Kampfkraft der Gewerkschaften getan.

Die Parteispenden-Affäre lässt uns gegenüber dem Hause Flick an devoten Politikern verzweifeln, die »zu jeder Tages- und Nachtzeit zur Verfügung« stehen, während die, die das enthüllen, bei anderer Gelegenheit journalistische Sorgfalt vermissen lassen, was wir an den Hitler-Tagebüchern im stern erkennen. Ebenfalls schlecht recherchiert hat der Militärische Abschirmdienst, der dem ranghöchsten deutschen Nato-Offizier Kießling Homosexualität andichtete. Handwerklich sauber waren dagegen die Enthüllungen, die Hormone in der Kälbermast, vordatierte Eier, Würmer in Fischen, toxische Stoffe im Olivenöl sowie Glykol im Wein ans Licht der Öffentlichkeit zerrten. Verharmlost wurde die Gefahr für deutsche Kinder und Kegel durch den Gau in Tschernobyl, und das Loch in der Gefängnismauer von Celle war gar nicht von Terroristen, die man so nicht bekämpfen darf, angerichtet worden. Wie Barschel es tat, darf man den Engholm nicht bekämpfen, aber dass später der Janssen den Pfeiffer mit Bargeld versorgte, ist mit Rücktritt von Janssen und Engholm richtig geahndet, während es eine Schande zu nennen ist, dass Strauß, Kohl und Stoltenberg aus dem U-Boot-Deal mit Südafrika so ungeschoren hervorgingen. Das gelang später Möllemann nicht, und auch an Minister Krause, dessen Sohn dubios zu einem Führerschein und dessen Gattin noch dubioser zu einer fremdfinanzierten Haushaltshilfe kam, ging der Kelch nicht vorüber.

Als Rückschlag muss gewertet werden, dass Klaus Bednarz' Vorschlag, statt des teuren Jäger 90 doch durch den Kauf der russischen Mig 29 Kosten zu sparen, ohne die militärische Handlungsfähigkeit zu mindern, kein Gehör fand. Dafür konnten einige Mitarbeiter der Treuhand in die Wüste geschickt werden, womit zugleich der absurde Gedanke befördert wurde, nicht der ungeschützte Aufeinanderprall ungleich produktiver Ökonomien und die notwendige Zerschlagung konkurrierender Produktionskapazitäten sei der Grund für die Deindustrialisierung der neuen Bundesländer, sondern die marktwirtschaftswidrige Machenschaft einzelner Dunkelmänner. Außerdem haben Stasi-Seilschaften noch immer zu viel Einfluss ...

Genug - ich will den Leser ja nicht quälen, nur weil mich die Lektüre quälte, sondern bewiesen werden soll, dass das Arrangement, die Mischung von Bagatellen und die Republik erschütternden Ereignissen, geradezu zwangsläufig die Pointe ansteuert, die das Vorwort schon bietet: »Der Skandal gehört zur Demokratie wie die Sünde zum Christenmenschen. Da weder Menschen noch Institutionen vollkommen sind, muss sich das demokratische Gemeinwesen seine Fehler immer vor Augen führen.« Der Mensch, wie schon von Willy Millowitsch besungen, als Sünderlein und die Institution mit ihren menschliche Zügen, da kann, wer nicht naturwidrig handeln will, nur als »unverbesserlicher Nörgler«, also im Idealfall als Journalist, tun, was realistisch das Maximum ist, nämlich, »dass man einen Skandal einen Skandal nennt«. Dieser Vorgang bewirkt einerseits nichts und andererseits Wunder: »So betrachtet, ist ein politischer Skandal (...) auch ein Sieg des demokratischen Prinzips«, weshalb viele Skandale nicht nur die Frage provozieren, ob »unser demokratisches Gemeinwesen über die Auseinandersetzung mit seinen Skandalen demokratischer geworden« ist, sondern auch ihre emphatische Bejahung: »Und doch zeugt der Erfolg der Bundesrepublik (auch jenseits der Grenzen ihres Gründungsterritoriums) von der Attraktivität einer stabilen Demokratie mit funktionierenden Institutionen.«

Der kritische Konformist beweist in solchen Sätzen, dass seine Apologetik des deutschen Staates nicht geringer ist als die des Fröhlichen, sondern begründeter. Das ermöglicht geübten Umgang mit verschiedenen Ereignissen.

Um einen Skandal zu beklagen, benötigt der kritische Konformist eine Lüge, eine Vertuschung, aber am liebsten ein Recht, ein geltendes, gegen das verstoßen wurde. Damit ist garantiert, dass seine Unzufriedenheit nie mehr Substanz hat, als an der katholischen Kirche zu bemängeln, es gebe dort priesterliche Verstöße gegen den Zölibat. Ein Hirtenwort des Papstes machte in diesem, eine Gesetzesnovelle im anderen Fall die Beschwerde obsolet.

Ist der Gesetzesbruch populär, so verbleibt der Ertappte im Regelfall im Amt, kann sich manchmal sogar damit brüsten (Schmidt im Deutschen Herbst). Den Ruch von krimineller Energie und persönlicher Bereicherung, eine erhabene Übergesetzlichkeit können sich nur wenige erarbeiten. Die Bewunderung für den Führer Strauß in Bayern trug diese Züge, noch mehr die für Bismarck. Und auch der Beifall für Kohl vor der Handelskammer in Hamburg und in Bremen drückt in bestimmten Milieus die Wehmut nach verflossenen Tagen aus. Unrealistische Sehnsucht, weil auf einen Abgewählten projiziert.

Erfolgt die Konspiration eindeutig aus Gründen der allseits geteilten Staatsräson, so ist nichts zu beanstanden, wie gerade das Beispiel der angeblich nur 50 Millionen Mark beweist, die zum Zwecke der Abwehr kommunistischer Gefahren nach Portugal und Spanien flossen. Sogar der Bundesrechnungshof war eingeweiht, und so droht nur Ungemach, sollte ein Teil der Mittel zweckentfremdet, also zur Austragung demokratischer Konkurrenz in Deutschland, verausgabt worden sein.

Dass in so existenziellen Fragen wie im Kriegsfall der Schulterschluss total zu sein hat, also niemand lachen darf, wenn Scharping Serben mit kosovo-albanischen Föten Fußball spielen lässt, ist so selbstverständlich, wie die fachmännische Erörterung der völkerrechtlichen Kompliziertheit die prinzipielle Zustimmung des Nörglers verrät. Schließlich will man nach dem Sieg den Frieden gemeinsam feiern.

Sollte Scharping eines Tages eine korrupte Unregelmäßigkeit nachgewiesen werden, so wird sorgsam zu erwägen sein, ob seine Verdienste seine Verfehlungen dominieren, oder umgekehrt. Wem diese Frage gestellt wird, hat schon verloren. Der auf dem absteigenden Ast sich befindende Politiker (aber auch der Wirtschaftsführer, wenn man z.B. an Edzard Reuter denkt) wird schließlich mit der marktwirtschaftlichen Norm konfrontiert, dass der Verlierer weder Respekt noch Mitleid verdient und man ihm mit allerlei Frechheit begegnet.

Das ist sowohl das Recht als auch die Rache der Devoten, die heute manchen CDU-Politiker vor laufender Kamera über den Mund fahren, wie sie sonst nur den jugoslawischen Botschafter oder Egon Krenz nicht ausreden ließen. Der so Unterbrochene verkörpert Zaghaftigkeit und Führungsschwäche, was schwerer wiegen kann als das ihm zur Last gelegte Vergehen.

Ich wage nicht zu beurteilen, ob die prognostizierten Stimmenverluste der CDU mehr auf die kriminellen Machenschaften, die Geldwäsche oder mehr auf das chaotische Erscheinungsbild der Partei zurückzuführen wären. Jedenfalls gibt es ein größeres Segment im Wahlvolk, das akzeptiert, geschröpft zu werden, aber bei Führungsschwäche und Mängeln im Polit-Management einfach kein Auge zuzudrücken bereit ist. Deshalb gefällt Schröder wieder vielen besser und Biedenkopf, derAvantgardist des Sozialdarwinismus, siegt bei allen Sympathie-Erforschungen. Er ist Vordenker, Querdenker, unbescholten - und man nennt ihn König Kurt.