Der Fall des Märchenprinzen

Wer die Aussagebereitschaft des Kronzeugen Tarek M. verstehen will, muss sich auch mit der Geschichte der Revolutionären Zellen auseinander setzen.

Großeinsatz der Berliner Polizei: Am 19. Dezember 1999 stürmen mehrere Hundertschaften den Mehringhof. Am selben Tag werden zwei Mitarbeiter des alternativen Projektes sowie eine Frau in Frankfurt am Main verhaftet. Die Bundesanwaltschaft begründet die Aktion mit Aussagen Tarek M.s, der einen Monat zuvor wegen des Verdachts auf Mitgliedschaft in den Revolutionären Zellen (RZ) verhaftet wurde. Demnach sollen die drei an Anschlägen der Gruppe beteiligt gewesen sein, die im Rahmen einer RZ-Kampagne gegen imperialistische Flüchtlingspolitik in den Jahren 1986/1987 in Berlin verübt worden waren.

Seither wird Tarek M. in den Medien als »Kopf der Revolutionären Zellen« (Tagesspiegel) und »Plaudertasche« (Focus) gehandelt. Die Autonomen werten seine Angaben als »Verrat« eines Kronzeugen (Interim), der sich dem Staatsschutz angeboten habe.

Tarek M. war seit Ende der siebziger Jahre in militanten Zusammenhängen aktiv, beteiligte sich an Häuserkämpfen und im Anti-AKW-Kampf. Seit Anfang der achtziger Jahre lebte er in Berlin und war dort in die autonome Szene eingebunden. Wir wissen nichts darüber, ob seine politische Praxis, sein Umgang mit anderen (Militanten) hartnäckige Zweifel genährt hätte. Dafür spricht - ungewollt zwiespältig - der Titel des Interim-Vorwortes: »Der Verrat eines Märchenprinzen«.

Nicht nur Interim fragt sich, »warum es sein kann, daß einer wie Tarek so lange so viel macht und dann so umkippt«. Die Fassungslosigkeit über »die schlimmste Form von Verrat - an ehemaligen politischen FreundInnen, an einer ganzen Szene, an der Utopie gesellschaftlicher Veränderung« ist deutlich. Die Gefahr und lähmende Bedrohung, die von diesen belastenden Aussagen ausgeht, ist zu spüren in Andeutungen und in Appellen, nicht zu spekulieren, sich an keinen Gerüchten und Mutmaßungen zu beteiligen.

In Interim (Nr. 492) werden - kommentarlos - »einige Stichpunkte zur Biographie« von Tarek M. abgedruckt. Dort erfahren wir, dass er »sehr an formaler Anerkennung wie 'schwarze Gürtel' orientiert« war. Außerdem habe er »sowohl langandauernde Beziehungen als auch etliche Affären« gehabt. »In diesen, und das war schon zum damaligen Zeitpunkt bekannt, erzählte er immer wieder ausführlich, an was für tollen Geschichten er angeblich beteiligt sei, damit die Frauen auch gewiß merken, an was für einen tollen Hecht sie geraten waren.« Dem Verfasser schwant schon etwas und er fährt fort: »Das wäre jetzt purer Tratsch, wenn es nicht genau der Knackpunkt ist, über den Tarek 1995 und 1999 gestolpert ist.« Zu guter Letzt lesen wir noch, dass »sich Tarek immer mehr kulturell aus der Kreuzberger Szene« entfernt habe. Warum wir wissen müssen, dass er eine deutsche Mutter und einen saudiarabischen Staatsbürger als Vater hat, erfahren wir nicht. Will der Verfasser damit einen »Identitäts- und/oder Kulturkonflikt« andeuten?

Es wird vorgegeben, mit diesen biografischen Stichpunkten »den Konflikt für all die nachvollziehbarer zu machen, die ihn nicht persönlich kennen«. Diese »Biographie« nähert sich vielem - am allerwenigsten aber der Frage, wie ein solcher Verrat zu verstehen ist. Alles wird angespielt und angedeutet: ein bisschen antipatriarchale Kritik, ein bisschen Kritik an (männlichem) Leistungsdenken. Und wer damit nichts (mehr) anzufangen weiß, wird mit dem Stichwort »etliche Affären« ebenfalls gut bedient.

Nehmen wir einmal an, diese Biografie könnte tatsächlich Auskunft auf die Frage geben, wie es zu Tarek M.s ausführlichen Aussagen kommen konnte. Wo finden wir einen Menschen, der nicht (auch) nach »formaler Anerkennung« sucht? Wo finden wir einen Menschen, der absolute Verschwiegenheit, gerade auch gegenüber seiner Freundin, seinem besten Freund, in aller Konsequenz durchhält? Wo finden wir einen Menschen, der es mit den unbestimmbaren Codes autonomer Lebenswelten genau nehmen kann? Diese Biografie und die darin versteckten Wegweiser in Richtung Verrat entwerfen als Gegenbild einen Menschen, den es nicht gibt. Es muss sich um ein Fabelwesen handeln - um einen Märchenprinzen eben.

Auch Interim will die selbst gestellten Fragen mit dem Klischee eines skrupellosen Verräters stilllegen. Ganz sicher ist man sich dort, dass Tarek M. »alle und jeden« verrät. Nehmen wir einmal an, es stimmt, dass Tarek M. »alle und jeden« verrät: Was hält jene ab, die das wissen, all das genau und nachvollziehbar öffentlich zu machen? Wer soll noch geschützt werden, wenn dem Staatsschutz alles schwarz auf weiß vorliegt? Und selbst wenn es stimmen sollte, dass er wegen Prahlereien gegenüber Frauen mit der RZ in Verbindung gebracht wird: Erklärt das wirklich, dass Tarek M. »alle und jeden« verrät, obwohl er genau weiß, dass die Vorwürfe strafrechtlich verjährt sind? Man kann all diesen Fragen mit dem billigen Profil eines typischen Verräters ausweichen. Politisch halten wir das für fatal.

Es ist verständlich, dass es leichter erscheint, sich gegen einen Verräter zu solidarisieren, als sich mit dem Konzept und der Geschichte der RZ / Rote Zora auseinander zu setzen. Doch diese Geschichte war von heftigen persönlichen Differenzen und Verletzungen geprägt, die am Ende dazu geführt haben können, die Seiten zu wechseln.

Man kann dieser Problematik aus dem Weg gehen. Sicherlich können auch ganz persönliche Umstände und Entscheidungen eine Rolle bei Aussage-Erpressung und/oder Verrat spielen. Sich aber gleichzeitig über den politischen Hintergrund auszuschweigen, fordert Spekulationen und Mutmaßungen geradezu heraus.

1991 veröffentlichten die RZ eine Erklärung: »Gerd Albartus ist tot«. Darin werfen sie »einer Gruppierung, die sich dem palästinensischen Widerstand zurechnet«, vor, das RZ-Mitglied Albartus als »Verräter« zum Tode verurteilt zu haben. In dem Schreiben heißt es, dass die Verbindung zu dieser »Gruppierung« auf einen historischen Abschnitt verweist, »unter den wir aus politischen Gründen schon vor etlichen Jahren einen Schlußstrich gezogen haben«. Es geht um eine Flugzeugentführung im Jahre 1976, an der sich zwei Palästinenser und zwei Mitglieder der RZ beteiligten. Die Aktion verursachte heftige Debatten innerhalb und außerhalb der RZ. Vor allem ging es um den von der Gruppe formulierten Vorwurf, israelische Staatsbürger sowie weitere jüdische Menschen seien vom Rest der Passagiere selektiert worden.

Die RZ kamen in ihrem Papier zu dem Schluss, dass es sich dabei um eine »Selektion (...) entlang völkischer Linien« handelte, bei der ein als Antizionismus verkleideter Antisemitismus deutlich geworden sei. Zum anderen wandte sich die Gruppe gegen ihre eigene ehemalige antiimperialistische Praxis, die sich nicht aus den Verhältnissen im eigenen Lande begründete. Zudem stellten sie den »Mythos nationaler Unabhängigkeit« in Frage, in der die RZ den sozialen Gehalt der Revolution nicht aufgehoben sah. »Existenz und Gewalt des gemeinsamen Gegners reichen nicht aus, um die Gegensätze und Konflikte in den eigenen Reihen einzudämmen.«

Diese Selbstkritik hatte weit reichende Folgen: Es kam zu »Brüche(n) in persönlichen Freundschaften (...), die bis hin zu Trennungen gingen«. In einer mit »RZ-Tendenz für die internationale soziale Revolution« unterschriebenen Erklärung wurde der Vorwurf erhoben, dass das Papier »gegen unseren Willen mit dem Gesamtnamen RZ unterzeichnet« wurde. Es stelle die Suche nach »eine(m) konstruktiven Platz zur Neugestaltung der Demokratie«, kurzum den »Ausstieg« aus militanter Politik, dar.

Nur ein paar Monate später, im Januar 1992, erklärte ein anderer Teil der RZ »das Ende unserer Politik«. Er bilanzierte in einem Schreiben seine militanten Interventionen im Flüchtlingsbereich: »(Wir) phantasierten den Willen der Flüchtlinge, in den Metropolen ihren Anteil am gesellschaftlichen Reichtum (...) einzuklagen, als direkten antiimperialistischen Kampf. Als die Kämpfe in dieser Form ausblieben (...), kompensierten wir dies mit der Analyse der staatlichen Flüchtlingspolitik und mit Angriffen auf deren zugängliche Agenturen.«

Auch in diesem Papier sind Andeutungen enthalten, die weit über die Kritik an einer illusionären Bezugnahme auf Flüchtlinge und auf eine fehlende Verankerung militanter Politik hinausweisen: »Mit dem Vorschlag, (...) im Jahre 1990 alle Kräfte der RZ auf die Ingangsetzung einer breiten, antirassistischen und internationalistischen Kampagne zu lenken, sind wir nicht durchgekommen.« Einige seien der Ansicht, mit einer neuen, antipatriarchalen Orientierung das politische Defizit füllen und die RZ über die Durststrecke bringen zu können. »Unsere Gruppe konnte und wollte (...) die Ausrichtung der gesamten Politik auf das Thema 'Antipatriarchalismus' nicht hinnehmen.« Eine gemeinsame Politik mit den Frauen der Roten Zora scheiterte. Stattdessen wurde »ihnen durch unsere Ansichten und unser Verhalten die Trennung von uns nahe (gelegt).«

Es spricht viel dafür, dass die RZ / Rote Zora nicht an der staatlichen Repression gescheitert sind, sondern an inneren Auseinandersetzungen. Wenn wir zu dieser Geschichte schweigen, werden eben andere auf Fragen Antworten geben. So berichtete der Focus jüngst, dass an der Ermordung von Gerd Albartus sowohl Carlos als auch das ehemalige RZ-Mitglied Johannes Weinrich beteiligt gewesen sein sollen. Das Erschreckende an dieser Meldung ist, dass der Wahrheitsgehalt mit dem wochenlangen Schweigen eher zu- als abnimmt.

Die RZ / Rote Zora hatten in den siebziger und achtziger Jahren ein große Bedeutung für autonome, militante Bewegungen. In ihrem Konzept nahm

das Wort von der Systemopposition eine mögliche Form an. Sich dazu in Beziehung zu setzen ist Teil einer Solidaritätsarbeit - unabhängig davon, wie sich die einzelnen Verhafteten juristisch und/ oder politisch dazu verhalten werden.