Transnationale Verräter

An den gefährlichen Kreuzungen des Historikers George Lipsitz treffen sich indisch-englischer Bhangramuffin, nordafrikanisch-französischer Rai oder Chicano-Punk.

Es gibt eine Sorte von Literatur, die nur von Plattensammlern gelesen wird. Heute ist sie, als Resultat bestimmter technologischer und ökonomischer Entwicklungen der Unterhaltungsindustrie, die nicht zuletzt die CD hervorgebracht haben, fast völlig ausgestorben.

Die Rede ist von Liner-Notes. Darin wurden, denkt man an alte Soul- oder Ska-Platten, die Hobbys der Musiker aufgelistet (Schwimmen, Fußball, Gitarrespielen), Jazz-Kritiker ergingen sich in liebevoll kleingedruckten Ausführungen, deren Tonfall längst vergessen ist und deren Lektüre mindestens die erste LP-Seite beanspruchte, oder die Musiker gaben dem Hörer selbst ein paar einführende Bemerkungen mit auf den Weg, priesen den Creator oder berichteten von ihren Reisen.

So auch der aus Kamerun stammende Saxophonist Manu Dibango, neben Fela Kuti der bekannteste Exponent jenes als Afro-Beat in die Musikgeschichte eingegangenen west-afrikanischen Funk-Synkretismus. Auf der Rückseite des Covers der deutschen Pressung seines 1973 erschienenen »Soul Makossa»-Albums schreibt Manu Dibango: »Standing at the crossroads of rhythmed music I look around and I see Jazz, Blues, Soul Music, Samba, Calypso, Beguine etc. (...) and I know that this music was born in Africa, was brought to America when three centuries ago, my people sailed unchained across the Atlantic with their songs.«

Der Autor gesteht, über die Geschichtsphilosophie des letzten Satzes mehrfach gestolpert zu sein, während er dem vertrackten Beat von »New Bell« zu folgen versuchte, den er, als Cover-Version »Ricanstructed« von den in New York lebenden, puertorikanischen House-Produzenten Kenny Dope Gonzales und Little Louis Vega vor anderthalb Jahren zum ersten Mal in einem Plattenladen gehört hatte. Mindestens vier Mal also ist dieser eklektische Breakbeat über den Atlantik gereist - zu unterschiedlichen Zeiten, in unterschiedlichen Medien und Eigentumsverhältnissen.

Das radikale Potenzial dieser Musik ist nicht darin begründet, dass Dibango die Musik innerhalb eines Diskurses pan-afrikanischen Selbstbewusstseins situierte, sondern vielmehr, dass sie sich nicht den Modellen kultureller und nationalstaatlicher Inklusion oder Exklusion fügt. »Zuerst sagte man mir in Afrika nach, ich würde westliche Musik machen, ich sei schwarzweiß. Damit lief ich lange rum. In Frankreich warf man mir öfter vor, ich würde amerikanische Musik machen. Und als ich nach Amerika zog, meinten die Amerikaner, ich würde afrikanische Musik machen. Man kann kein größerer Verräter sein als ich.«

»Verrätern« wie Dibango hat der US-amerikanische Sozialhistoriker George Lipsitz ein Buch gewidmet, das nun in deutscher Übersetzung vorliegt: »Dangerous Crossroads - Popmusik, Postmoderne und die Poesie des Lokalen«. Zugleich versteht sich seine materialreiche Studie als Versuch, eine Theorie der gegenseitigen Bedingtheit von internationaler Warenzirkulation und lokaler Identität und Bedeutungsproduktion zu entwerfen, die das Gemeinsame zwischen so synkretistischen Formen wie indisch-englischem Bhangramuffin, nordafrikanisch-französischem Rai oder Chicano-Punk aus L.A. benennen könnte.

Lipsitz geht vom Bankrott zweier Entwicklungsmodelle aus, die durch die Deindustrialisierung der siebziger Jahre obsolet geworden sind: Dem der nationalen Befreiung in der Peripherie, wie sie von den antikolonialen Bewegungen der Fünfziger und Sechziger propagiert wurde, und dem der sozialdemokratischen Partizipation, die noch die Hoffnung der Civil-Rights-Bewegungen nährte. Beide waren an den Nationalstaat und seine Institutionen gebunden, die zu überschreiten das globalisierte Kapital sich längst angeschickt hat. Und auch für die trikontinentalen Musikstile, die als einigende Staatskunst gefeiert wurden - wie Lipsitz an der von Joseph Kasabelle geleiteten, kongolesischen Rumba-Jazzband, mit der Patrice Lumumba auf Staatsbesuchen reiste, zeigt -, war dieser Rahmen schon viel früher zu klein - oder zu groß. Deren afro-karibische und afro-amerikanische Spielweisen vereinende Musik fügte sich viel eher dem, was der britische Soziologe Paul Gilroy unter dem Schlagwort des »Black Atlantic« thematisierte: den vielfältigen historischen Vernetzungen, gemeinsamen Anliegen und sich überlagernden kulturellen Praktiken quer durch die Diaspora afrikanisch-stämmiger Menschen in aller Welt, die für ihn eine Art unterdrückte Gegengeschichte der Moderne bilden. Die globalisierte Weltökonomie aber, so Lipsitz, mache es nun notwendig, ähnliche Modelle der Vernetzung zu entwickeln: »Aus der Macht des transnationalen Kapitals folgt, dass wir alle transnational werden müssen.«

Eine Chance für eine derartige Bündnispolitik liege in dieser Macht selbst. Die Auswirkungen der gegenwärtigen ökonomischen Strukturen seien zwar zunächst, vor allem für die Länder des Trikont, fatal. Auch auf kultureller Ebene, auf der eine globale Kulturindustrie noch die letzten, nicht verwerteten Reservate durchdringt. Zugleich aber liefere diese Entwicklung ihr eigenes Gegengift in Form der Gleichzeitigkeit von kulturellen Ausdrucksformen, die das Potenzial besitzen, Ideen, Erfahrungen und das Wissen von Kämpfen um Befreiung genauso schrankenlos zirkulieren zu lassen - sei es als produktives Missverständnis, Übersetzung oder als Projektion. Das bedeutet auch, dass mit Modellen des Kulturimperialismus als »zweigliedriger Beziehung zwischen Metropole und Peripherie« wie einer sich außerhalb der herrschenden Ideologie situierenden, »avantgardistischen« oder »authentischen« Kunst wenig zu holen ist.

Diese Perspektive löst Lipsitz' Buch allerdings nicht immer ein, liest man darin doch auch haarsträubenden Unsinn, etwa über den ursprünglich »anti-sexistischen« Gehalt - ausgerechnet! - des jamaikanischen Dancehall-Reggae. In einem ansonsten durchaus faszinierenden Close-Reading der »Semiotik« von Musical Youths »Pass the Dutchie»-Video dient dessen Doppelcodierung als Beispiel, »wie sie das System besiegten, indem sie auf ihre eigenen Ressourcen zurückgriffen«. An solchen Stellen wird die Methodik, auch noch in der kleinsten Kontingenz einen subversiven Triumph auszumachen, überstrapaziert.

Besser ist das Buch dort, wo Lipsitz nicht musikologische Untersuchungen über Rastafarianismus in Japan oder australischen Aborigine-Rock absatzweise durchzappt, sondern sich tatsächlich auskennt. Und zwar bei den US-amerikanischen Phänomenen: etwa in der Geschichte der komplexen ethnischen Transcodierungen, die afro-amerikanischen »Indianer« auf Mardi-Gras-Umzügen hervorgebracht haben, oder in der Chicano-Kultur in East-L.A., den obskursten Seitensträngen des R'n'B der Fünfziger oder der Latin-Bugalu-Welle der Sechziger.

George Lipsitz: Dangerous Crossroads: Popmusik, Postmoderne und die Poesie des Lokalen. Aus dem Amerikanischen von Diedrich Diederichsen. Hannibal Verlag, St. Andrea-Wördern 1999, 240 S., DM 38