Dschungelbuch

Vor der Tür ist draußen

Am liebsten lese ich Bücher, die einen Tick über meinem Niveau sind oder einen Tick darunter. Das kommt wahrscheinlich daher, dass einem lesegierigen kleinen Mädchen nach dem Krieg nur die Bücher zur Verfügung standen, die im Wohnzimmer neben der Hausbar lagerten - neue Bücher kaufen stand nicht auf dem Einkaufszettel -, und das waren folgende: »Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind« (den Titel gibt es heute noch, allerdings verkürzt um »deutsche«), »Faust I., für die Jugend bearbeitete Fassung«, »Old Surehand« Band I und II und ein Benimmbuch der dreißiger Jahre. Aus dem letzteren konnte man z.B. erfahren, welchen Platz an der Festtafel man dem Ortsgruppenleiter zuweisen sollte.

Eine Information, von der man ja nicht wissen kann, ob man sie nicht noch einmal braucht. Damals vermochte übrigens niemand aus der Familie mir zu erklären, was ein Ortsgruppenleiter ist, obwohl Opa einer gewesen war, wie sich später herausstellte.

»Faust« sagte mir mit neun Jahren nicht viel, das Schwangerschaftsbuch hingegen umso mehr. Ich verstand zwar nur die Hälfte, aber auf jeden Fall widersprach es allem, was ich bisher über diese Angelegenheit mitgeteilt bekommen hatte. Als ich beide Old Surehands jeweils zwölf Mal gelesen hatte, wurde es mir doch ein bisschen öde, und ich wandte mich der Mappenzeitung zu. Das war der Himmel! - Sie müssen sich vorstellen, dass in jener Zeit die Fortsetzungsromane, die es in jeder Illustrierten gab, nicht etwa in dem Stil »... brutal riss er ihren Slip herunter ...« verfasst waren (mal ganz abgesehen davon, dass es keine Slips gab, es gab nur Schlüpfer), sondern ganz im Gegenteil, es wimmelte von keuschen aber doch irgendwie leidenschaftlichen Schwüren und zarten Küssen, vorwiegend in römischen Palästen gegeben und genommen, was auch sehr schön harmonierte mit der oft gespielten Wunschkonzert-Arie im Radio: »... und vom Fenster des Palazzo fallen dunkelrote Rosen ...«

Das gefiel mir sehr, auch wenn ich dank der deutschen Mutter und ihres ersten deutschen Kindes schon ahnte, wie wenig romantisch es hinterher zugehen würde. Mit vierzehn fand ich mich dann doch schon zu gereift für solchen Scheiß, und mit Hilfe eines Leserausweises für die städtische Leihbücherei versorgte ich mich mit Literatur, in der eine Menge Wörter wie Hermeneutik, Probabilismus, Redundanz und Ontologie vorkamen. Diese Bücher las ich vorzugsweise im Schüler-Café, angetan mit einem schwarzen Pullover und einer kleinen runden Brille, die ich nicht brauchte.

Zur gleichen Zeit las ich zu Hause Bücher, in denen sich ähnlich schwierige Wörter fanden, nur lauteten diese: Materietransmitter, Photonenantrieb und »Commander, ich fürchte, wir müssen den Reaktorkern deaktivieren«. Naja, einmal musste es ja gebeichtet werden. Zwischen 15 und heute habe ich dann alles gelesen, was Sie vermutlich auch gelesen haben, und das meiste davon habe ich mit Fassung getragen.

Was ich heute gerade lese? »Die deutschen Sprichwörter« von Simrock. Dieses Buch entspricht genau meinen Vorstellungen von guter Lektüre. Angefangen von einfachen Sätzen wie »Du hast dem Kind die Beine noch nicht gesehen« und »Vor der Tür ist draußen«, über schwierigere Aussagen wie »Hüte dich vor jenen, so zwei Zipfel haben«, bis hin zu genialen und völlig unverständlichen Sprüchen: »Jedes Ding hat seinen Handgriff, nur das Mistspreiten hat seinen Schludder«. Der allerliebste aber ist mir : »Gute Nacht, Schnepf, wir wollen ins Tirol«. Ich möchte aber nicht, dass jemand vorbeikommt und mir's erklärt.