Surrogat: »Rock«

Gib mir Alles

Was tun, wenn sich die Dinge ändern: Surrogat stellensich der Machtfrage.

Am Anfang war die Stadt wüst und leer. So sah es wenigstens aus. Da gab es keine Telefonzellen, keine Cocktail-Bars, keine Geschäfte, in denen man Carharrt-Hosen hätte kaufen können, für all das musste man in den Westen fahren. Die Straßenbahn war aus den Fünfzigern, aus der Zeit, bevor man Türen hydraulisch öffnen und schließen konnte. Wollte man sich in den Wagen unterhalten, musste man schreien. Die Geschäfte waren vernagelt, Galerien gab es keine. Das war tagsüber.

Diese Stadt hatte auch einen Sound, der war elektronisch, nannte sich Techno. Das passte prima zu den Kellerbars und zur Euphorie und zu dem Abenteuerspielplatz-Charakter, den man der Stadt geben konnte. Niemand fragte nach dem Warum, jeder lebte im Heute, es ging ums Weitermachen. Das war nachts. Das war Ostberlin, und das ist lange her. Das war weder toll noch blöd, sondern es war einfach so.

Diese Stadt ist jetzt Hauptstadt. Die frühen Neunziger sind ein Mythos, auf dessen Ticket sich die Protagonisten als »Children of Berlin« auf Senatskosten nach New York fliegen lassen. Werbeagenturen verlegen ihre Kreativ-Abteilungen nach Berlin. Es gibt den Berlin-Roman. Dazu muss man sich verhalten.

»Gib mir die Stadt / Gib mir das Land / Gib mir den Staat / Gib mir alles / Gib mir Berlin / Gib mir New York / Gib mir Wörth am Rhein / Gib mir alles / (...) Gib mir die Macht / Gib mir den Konzern / Gib mir den Imbiss an der Ecke / Gib mir alles / Gib mir Kitty Yo / Gib mir Daimler Benz / Gib mir Scholz & Friends / Gib mir alles / (...) Gib mir alles muss zerstört werden«. Das sind erhabene Zeilen. Denn so ist die Lage.

Patrick Wagner ist der Sänger von Surrogat. Abgerissen sieht er aus - Thermojacke, Hose, Turnschuhe - und überarbeitet. Er ist nicht nur der Sänger, Promoter und Manager seiner Band, er ist außerdem noch sein eigener Labelboss und als solcher auch noch verantwortlich für den Kitty-Yo-Act Gonzales, der gerade in die britischen Verkaufscharts eingestiegen ist, als erster Act des Labels überhaupt. Und Patrick Wagner meint es ernst. Jahrelang hat Kitty Yo auf einem Low-Budget Level operiert, doch in »Rock« hat Surrogat Geld gesteckt, nicht zuletzt deshalb ist Patrick auch gerade aus seiner Wohnung geflogen.

Patrick steht unter Strom. Nachdem er, seine Band und sein Label jahrelang nur für sich und for those who know produziert haben und eine Art Versprechen auf Mehr waren, kommen nun auf einmal die, die solche Versprechen auf Massenbasis verhandeln, und wollen mitspielen. »Jahrelang haben wir denen beim Rolling Stone Promos geschickt, angerufen, kein Interesse. Auf einmal rufen die bei uns an und wollen uns zur Platte des Monats machen, ohne dass wir groß was dafür getan haben. Beim Vertrieb rasten die voll aus. Voll interessant, was da passiert.«

Hier will es jemand wissen. Hier stellt jemand die Machtfrage. Und das hat in Berlin lange niemand mehr getan - von Alec Empire und seinem Imperium einmal abgesehen, das aber von vornherein als international angelegte Parallelwelt funktionierte. Bei Surrogat und »Rock« geht es neben anderem um Berlin-Mitte, die vergangenen zehn Jahre und was man jetzt damit anstellt. Es geht um Selbstbestimmung. Wo fängt die Macht an, was ist Establishment, wie weit kann man sich unterwerfen, wie geht Selbstermächtigung? Und solche Fragen kann man ernsthaft erst dann stellen, wenn sie jenseits der üblichen Verdächtigen jemand hört. Dies ist eine Platte und kein Buch, und sie rockt.

»Wir waren zuerst da, und wir brauchen die nicht«, sagt Patrick und weiß dabei natürlich genau, dass das I was a punk before you were a punk kein Wert an sich ist, aber eingesetzt werden kann, wenn eine Industrie, die in der Krise ist, das Gefühl bekommt, sie müsse sich an das echte Ding ankoppeln. »Wir müssen ein Bewusstsein vom eigenen Wert entwickeln, das ist ein Faktor, wir müssen wissen, wie schöpft man das ab.« Und das gilt für alle, die sich in diesem Neunziger-Berlin herumgetummelt haben, sich auf bestimmte Verlässlichkeiten und Zusammenhänge einließen, die auch jahrelang funktionierten, weil es eben lief, weil man es machen konnte, auch weil sich außerhalb dieser Kreise niemand dafür interessierte. »Als wir damals mit dem ganzen Kram angefangen haben, haben alle gesagt, wir sind verrückt, da war hier nichts. Da war nur Isolation. Klar kann man im Nachhinein immer sagen, dass das funktionieren musste.«

Die Zeiten des Umbruchs sind vorbei, und jetzt heißt es sich zu überlegen, wo man steht, wenn man eigentlich nicht etwas besser wissen will, sondern etwas nach vorne bringen. »Haus rocken / Wand durchbrechen / Leute gucken / Welt verändern«. Das ganze Subkulturprogramm also nochmal, voll indiemäßig und voll großspurig. »Wir haben viel vor / wir haben viel vor / Berlin liebt Dich«.

Dafür spielen Surrogat Rock, als sei es die natürlichste Sache der Welt. Und das hat seine Gründe, denn will man sich verhalten, muss man eine Sprache haben, und elektronische Musik konnte die Erfahrungen von Macht nie verbalisieren. Da gab es zwar begleitende Lektüren und die Vorstellung, dass Netzwerke irgendwie besser sind als Hierarchien, und dass das, was mit Computern zu tun hat, oder dass eigene Labels besser sind als die der Industrie. Aber im Grunde spielte die elektronische Musik die Geschichte der Independent-Bewegung der Achtziger noch einmal durch, nur ohne Inhalte und etwas weniger dogmatisch. Aber für Zorn, Enttäuschung und Keinen-Spaß-am-Spaß-Haben braucht man eine Sprache. Eine Sprache, nach der man in den Berlin-Romanen lange suchen kann, denn dort werden Gegenwelten als Innerlichkeiten aufgezogen und nicht als soziales Modell.

Und am Ende des Tages geht es um Musik. »Hey, das ist eine Rockplatte, und da ist kein einziger 4/4-Takt drauf, eine Rockplatte ohne 4/4 - das hat's noch nie gegeben!« Es geht um Rock im Sinne von Energie. Also - um das Spektrum der Referenzpunkte aufzufächern - Fehlfarben, DAF, AC/DC, Jon Spencer's Blues Explosion, James Brown. Patrick Wagner ist der einzige Sänger Deutschlands, der »Hit me!« schreien kann, ohne dass man sich verstecken möchte. Dies sind zehn Stücke, die Platte dauert 33 Minuten, die Titel heißen »Rocker«, »Gib Mir Alles« und »Berlin liebt Dich«. Und es geht um Gefühle. Aber das ist eine andere Geschichte. Wer Ohren hat zu hören, der höre.

Surrogat: »Rock«. Kitty Yo (EFA)