Ein Selbstversuch mit Violent Femmes

Teenage-Angst revisited

Nur ein paar Alben trennen die Leiden der Jugend von der Altersdepression. Ein Selbstversuch mit Violent Femmes.

Eigentlich wusste man es ja schon immer: Es gibt nichts Ekligeres als fettbäuchige Glatzenträger, die selig grinsend und Wunderkerzen schwingend bei einer Golden-Oldie-Summernight zu den Hits ihrer Jugend in die Plastikbecher tränen.

Und doch kann es passieren: Man besucht nach fast zwei Dekaden noch einmal ein Konzert einstiger Jugendheroen. Stadionrock im Selbstversuch? Naja, ganz so schlimm ist es zum Glück bei den Violent Femmes nie geworden, obwohl sie 1994 in Woodstock schon vor 300 000 Zuschauern auftraten. Aber mit einem typischen Hallenkonzert, einem mit lausiger Akustik und lauwarmem scheißteurem Bier in Plastikbechern musste man mindestens rechnen.

Immerhin ist es eine anerkannte Tatsache, dass, nach fast einem halben Jahrhundert Rock'n'Roll-Geschäft, Alter und Rockmusik einander nicht mehr ausschließen, sondern im Gegenteil zusammengehören wie die Rolling Stones und der VW Golf. Was britische Musikzeitungen bei anstehenden Tourneen schon zu solch adäquaten Überschriften wie »Get Your Wheel-Chairs Out« animierte.

Das rollingstoneske Stadionrock-Trauma hatte ich zum Glück schon in frühester Jugend, und es wirkte so nachhaltig, dass ich bisher nie mehr in Versuchung geriet, so etwas noch einmal auszuprobieren.

Stattdessen wandte ich mich Bands zu, die von den Massen geschmäht wurden. Diesen Vorgaben folgend, war ich 1984 im Ratinger Hof dabei, als die Violent Femmes ihre erste Europa-Tour absolvierten. Nach der Veröffentlichung ihres Debüt-Albums, »Violent Femmes,« das 1983 als Meisterwerk gefeiert wurde, galt die Band ein Jahr lang als das hippe »andere« Ding. Die emotionale Direktheit war eine Offenbarung, damals, als sich im Untergrund Heerscharen hochpathetischer Schwarzkittelrocker im Trockeneisnebel gegenseitig auf die Füße traten.

Daher rotierte »Violent Femmes« Tag und Nacht auf meinem Plattenteller. Die ungeheure Spannung, die sich bei jedem ihrer Songs entwickelte, entstand nicht nur durch den ungewöhnlichen Einsatz der Instrumente - wilde Akustikbassläufe umspielten virtuos die verhaltene Begleitgitarre, während ein jazzig-nervös traktierter Snare-Drum dem Ganzen den nötigen Drive gab. Sie entstand vor allem durch die gleichermaßen aggressive wie gefühlvolle Spielweise, die zumeist in überraschenden Ausbrüchen gipfelte, bei denen die Violent Femmes die Rock'n'Roll-Struktur mit kurzen, aber extremen Freejazz-Improvisationen aufbrachen.

Dazu brachte Gordon Ganos schneidende Stimme die ganze Verstörtheit jugendlichen Daseins mit wenigen Worten auf den Punkt. Jeder Song ein klassisches Teenage-Angst-Melodram, aus dem der schmerzvolle Aufschrei des gequälten Heranwachsenden herauszuhören ist, die Sehnsucht nach Liebe, die Einsamkeit, die Demütigungen, die Niederlagen, die Drogen. Selten wurden die Außenseiter-Highschool-Traumata in solch formvollendeter Song-Prosa wie bei »Add It Up« oder »Kiss Off« vorgetragen, passenderweise schwankend zwischen hysterischer Humorigkeit und todtraurigem Ernst.

Es gab in der Popgeschichte immer wieder Bands, die in einem einzigen genialen Wurf ein zeitloses Album produziert haben und es danach nie wieder schafften, auch nur in dessen Nähe zu kommen. Das Trio aus Milwaukee ist leider auch so ein Fall, schon beim zweiten Album, »Hallowed Ground« (1984), war klar, dass auch bei den Violent Femmes das ungeschriebene Pop-Gesetz gilt: Einem überragenden Erstlingswerk folgt ein mittelmäßiges Zweitwerk.

Mit dem problematischen Debütnachfolger der Band deutete sich der kommende Niedergang schon unheilvoll an. Mehr als die Hälfte der Songs haben nichts mehr vom selbstkreierten, fast schon genuinen Folk-Punk-Stil, während die Song-Themen bis hin zur christlichen Erweckungslyrik (»Jesus Walkin' On the Water«) reichen.

Die Band, die Wert darauf legt, dass sie nicht französisch ausgesprochen wird - Femmes bedeutet im amerikanischen Slang so etwas wie Schwächling -, war eben nur solange gut, wie sie über das Thema sang, das sie wirklich etwas anging: jugendliches Außenseitertum.

Anderthalb Jahre später habe ich sicherheitshalber noch mal kurz in ihr drittes Album »The Blind Leading the Naked« reingehört, es absolut belanglos gefunden und mich seitdem nie mehr mit dem Output der Violent Femmes beschäftigt. Wozu sich mit Mittelmaß und Langeweile beschäftigen, wenn man jede Woche neue wundervolle Bands entdecken konnte, die einen mit phantastischen Erstlingswerken zu begeistern wussten?

Zurück zum diesjährigen Konzert: Wie erwartet, ist die Berliner Columbia-Halle schon fast zu groß und zu voll, das Bier scheißteuer, nicht warm, aber auch nicht richtig kalt. Das Licht geht aus, die Band betritt die Bühne und beginnt so unspektakulär und leise, dass man denkt, jemand habe lediglich einen Ghettoblaster aufgedreht. Sänger Gordon Gano sieht etwas müde aus, Bassist Guy Ritchie hat sein Gewicht seit dem letzten Mal fast verdoppelt, Schlagzeuger Victor de Lorenzo wurde 1992 durch Guy Hoffman ersetzt, weil er, wie Gano erläuterte, »immer mehr in einer Phanatsiewelt lebte«. Super-Tausch, dafür glaubt der Neue an Außerirdische.

Zwischen den heiß erwarteten Hits, die mit frenetischem Beifall und vereinzeltem hysterischem Gekreisch begrüßt werden, spielt das falsche Trio (zumeist mit Keyboarder und manchmal einer Bläsersektion) leider eine Unmenge neuerer Stücke der von mir geflissentlich ignorierten Alben Nr. 3 bis 7 - und die sind dann auch noch um einiges grausiger als befürchtet. Dass die Violent Femmes sich ziemlich radikal von ihrem musikalischen Ursprung entfernt haben, war schon lange klar - nun aber schaffen sie es problemlos, dass ich mir bereits nach wenigen Stücken wünsche, die Band hätte sich damals nach der zweiten Platte sofort aufgelöst oder wäre, noch besser, bei einem tragischen Autounfall vollzählig ums Leben gekommen.

Denn es gibt mehrere Warnzeichen dafür, dass eine Band schon zu lange existiert: Zum Beispiel dann, wenn Mitmusiker, die anerkanntermaßen nicht singen können, plötzlich auch Songs vortragen wollen. Wie Brian Ritchie, ein Mann, der für die Akustik-Bass-Soli ähnlich Wegweisendes geleistet hat wie Jimi Hendrix für das Gitarrren-Solo, nun aber gleich zwei Mal zu irgendwelchen 0815-Rockschemata Unhörbares herausgrölen musste. Oder dann, wenn eine Band versucht, die eigenen klassischen Songs, die gerade durch ihre schnörkellose Direktheit so wunderbar funktionierten, mit Bläser-Arrangements aufzupeppen - was den Musikern, die das Stück zum ungefähr 600. Mal herunternudeln, zweifellos Entspannung bringt, den wahren Fans jedoch Tränen der Wut und Verzweiflung in die Augen treibt.

Der Tiefpunkt ist allerdings erreicht, wenn man hymnische Songs verfasst, mit Titeln wie »New Generation« (vom neuen Album »Freak Magnet«), die daherkommen, als wären sie für die Werbe-Kampagane eines Zigaretten- oder Soft-Drink-Multis gemacht worden.

Und wenn Gordon Gano seine jugendlichen Leidens-Hits anstimmt, klingt es weniger nach Frustierten-Rebellion als vielmehr nach Altersdepression. Wenn er nicht gerade vorne am Mikro singt, steht er am Bühnenrand und schaut müde und leicht gequält drein. Ebenso müde und gequält vorgetragen werden dann auch die Songs des ersten Albums. Der einzige Song, der auch nur annähernd adäquat rüberkommt, ist die melancholische Drogen-Ballade »Good Feeling«, vielleicht, weil Gano schon immer so bittersüß resignativ klang. Und der einzige Song, der immer noch aktuell ist, geht es doch darum, dass man manche Fehler im Leben eben selber machen soll. Wie z.B. den, nach fast zwei Dekaden einstige Jugendheroen noch einmal zu besichtigen.